Höllinger, Görtz, Sebastian

Höllinger, Stephanie, Goertz, Stephan, Sebastian. Märtyrer, Pestheiliger, Queere Ikone, Freiburg i.Br. 2023

Bis zur Lektüre des Buches „Sebastian“ von Stephanie Höllinger und Stephan Goertz war dieser Heilige für mich ein verschlüsseltes Bekenntnis zur Homosexualität von katholischen, homosexuellen Männern, verbunden mit einer Leidensmystik derselben, die ich nicht recht verstehen konnte. Warum muss man einen Heiligen anschauen, der in seiner ganzen Pracht und Schönheit leidet? „Sebastian“ hat mir jedoch die Augen geöffnet: zum tieferen Verständnis dieser queeren Aneignung dieses Heiligen und den anderen, spannenden Transformationen. Doch der Reihe nach.

Zunächst erzählt die Legende vom römischen Märtyrer Sebastian, der getaufter Christ und gleichzeitig römischer Soldat war. Der Kaiser ließ ihn deshalb mit Pfeilen beschießen, um ihn zu töten. Aber Sebastian überlebt. Das ist der Glutkern der Wunder-Erzählung. Es handelt sich also um eine Auferstehungsgeschichte, und zwar im Leben. Dieser elementare Kern der Erzählung ist der Grund dafür, so die zentrale These der beiden Autor*innen, dass sich die Geschichte über die Jahrhunderte transformierte in immer wieder andere, jeweils aktuelle Zusammenhänge. Es geht in der Legende ums Überleben trotz widriger Umstände, Resilienz also. Dass Sebastian dann am Ende doch noch relativ unprosaisch brutal erschlagen wurde, machte ihn zwar dann zwar erst „formal“ zum Märtyrer. Für sein Heldentum spielte das aber keine Rolle. Überleben war seine Aura.

Deshalb setzte eine erstaunliche Entwicklung ein. Ein zunächst nicht besonders bedeutender Stadtheiliger von Rom erlebte einen ersten Globalisierungsschub. Er wurde mit seinem heroischen Überleben schon in Rom zunächst Pest-Heiliger, der angerufen wurde, weil er die „Gift-Pfeile der Pest“ zu überleben in der Lage sein würde. Er war eben der Patron des Überlebens.

Der nächste Schub war die Renaissance, in der sich seine Gestalt von einem etwas älteren, bärtigen Soldaten hin zu einem schönen Jüngling entwickelte, fast vollständig nackt, ebenso, wie die Renaissance-Kunst in Rom und Florenz, von wahrscheinlich oftmals queeren Künstlern, Heilige darzustellen pflegte. Sebastian wurde damit fast unbemerkt zur Chiffre für die „Pest der Sodomie“, also die von der angeblichen Schöpfungsordnung abweichende Begehrensform der Homosexualität. Der existenzielle Inhalt war einerseits das brutale Leiden an dieser „Abirrung“ (Michelangelo ist nur einer der vorbarocken an seiner Homosexualität leidenden Künstler), andererseits die schöne Lust am Anschauen der makellosen Schönheit dieser Jünglinge. Die Pfeile dieser Darstellungen wirken nicht tödlich, aber sie schmerzen. Die Ambivalenz von Lust und Leiden war das Neue dieser Transformation, eine provozierende Anspielung auf sado-masochistische Anteile sexuellen Begehrens.

Im 19. Jahrhundert dann kam es zu einer erstaunlichen Aneignung des Heiligen im nicht-(mehr) christlichen Kontext. Homosexuelle Schriftsteller und Künstler, oft aber mit christlichem Hintergrund, identifizierten sich mit dem Heiligen, bis hin zur Selbstinszenierung in der Pose des Leidenden mit den Pfeilen. Der sanfte Heilige ist die ideale Projektionsfläche zwischen Leiden und Lust an der eigenen sexuellen Orientierung. Zusätzlich kompliziert wird es in der religiösen Rezeption der Zeit, weil die Homophobie der offiziellen Lehre der Kirche eine der Hauptquellen dieses Leidens ist. Die Verteufelung der Homosexualität wird seitens der Kirche immer panischer, sein Klerus hingegen immer homophiler. Die Widersprüche werden krasser und immer unauflösbarer, je mehr Ambiguität ausgemerzt werden soll. Ein queerer Heiliger der Kirche wird eine auch überreligiöse Erlösergestalt: Man kann als homosexueller und gläubiger Mensch überleben. Sogar wenn die Pfeile aus der eigenen Glaubensgemeinschaft kommen. Mehr Verwirrung, mehr Ambiguität geht fast nicht.

Dass aber nach der Transformation des Sebastian zur queeren Ikone noch eine folgen konnte, ist das Überraschende dieses mit jeder Seite spannender werdenden Buches. Als Muhammad Ali 1968 auf dem Cover einer damals angesagten Zeitschrift als leidender Sebastian abgebildet wird und er damit gegen seine Einberufung als Soldat für den Vietnam-Krieg in den USA rebelliert und damit zur Ikone des schwarzen Widerstands gegen das kriegerische Establishment wird, ist Sebastian endgültig in den Olymp der überkonfessionellen Helden und Heiligen aufgestiegen.

Das alles ist überaus spannend zu lesen, der Herder-Verlag hat auch zahlreiche farbige Abbildungen abgedruckt, was dem Buch sehr guttut. Aber die Studie ist mehr als nur spannend zu lesen. Die Geistesgeschichte dieses Heiligen ist nicht nur eine Solidaritätsadresse für die queere Community, deren Marginalisierung innerhalb der katholischen Kirche noch lange nicht beendet ist. Sie ist auch nicht nur eine Chiffre für die Ambiguität homosexuellen Begehrens zwischen Lust und Leiden in einer diffamierenden Gesellschaft. Das alles auch. Was dieses Buch aber so enorm wichtigmacht, ist eine Meta-Reflexion. Die wird, wenn überhaupt, zwar nur angedeutet und – leider – nicht tiefer entfaltet. Diese lässt sich tastend vielleicht so umschreiben: Liegt in der Verselbstständigung dieses Heiligen vielleicht die gute Nachricht für das Christentum, dass seine grundlegenden Themen auch ohne ein explizites Bekenntnis zu ihm wirken, weil und wenn sie existentiell sind? Ist Sebastian vollständig inkarniert und somit das ganze Christentum, wenn leidende Menschen sich mit einem wie ihm identifizieren und sich in ihrem Widerstand gegen die sie unterdrückenden Zustände wiederentdecken und sich dann selbst empowern? Um die Zukunft der heilenden und befreienden Botschaft des Christlichen muss man sich nach der Lektüre dieses Buches also nicht sorgen. Eine Christlichkeit jenseits der Postmoderne ist möglich. Das Christliche kann sich vollständig inkarnieren in eine Wirklichkeit von tiefer Menschlichkeit, mit all seinen Verletzungen und Glückseligkeiten. Die Wirkungsgeschichte von Sebastian ist eine hervorragende Folie, auf der sich ein erneuertes Christentum abbilden lässt. Das macht Hoffnung.

Dr. Andreas Heek, Leiter der Arbeitsstelle Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz und Co-Koordinator der Queer-Pastoral der Deutschen Bischofskonferenz.

Stichworte: Sexualität, LSBTI

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