Schreiber, Im Dunkel der Sexualität

Gerhard Schreiber, Im Dunkel der Sexualität. Sexualität und Gewalt aus sexualethischer Perspektive, Berlin/Boston (De Gruyter) 2022

Gerade ploppt #MeeToo wieder auf. Till Lindemann, dem Frontmann der Band Rammstein wird Machtmissbrauch im Zusammenhang mit Sexualität vorgeworfen. Mindestens geht Lindemann – Stand Juni 2023 – auf Messers Schneide, wenn er sich junge Frauen zuführen lässt, mit denen er während seiner Konzerte „freiwilligen“ Sex hatte. Wo fängt Gewalt an und wo hört Einvernehmlichkeit auf? Diese Frage im Zusammenhang von Machtverhältnissen zu stellen, ist im gegenwärtigen Diskursraum von Gesellschaft – und ja, auch von Kirchen – ausgesprochen relevant.

Gerhard Schreiber hat zur richtigen Zeit einen großen Wurf gewagt: Er legt eine umfassende sexualethische Studie zu Sexualität vor, in der so gut wie alle Facetten menschlicher Sexualität beleuchtet werden, die dunklen jedoch immer im Licht einer Wertschätzung für den Menschen als sexuelles Wesen. Dies vorwegzustellen, ist in der kirchlichen Diskussion wichtig, steht Sexualität dort – mehr in der katholischen als in der evangelischen Kirche, will mir scheinen – unter Verdacht. Also: im Zentrum von Schreibers Betrachtungen steht Gewalt im Zusammenhang mit Sexualität, jene Grenze also, wo menschliche Autonomie aufhört und die Herabsetzung des Gegenübers beginnt. Und hier, zwischen Wertschätzung und Gefahren, verläuft die riskante Grenze, auf der Schreiber zu gehen wagt.

Dieser Grenzgang ist Schreiber gelungen, das kann vorweg schon gesagt werden. Alle Phänomene von menschlicher Sexualität beschreibt er äußerst präzise und umfassend. Danach kommt er zu differenzierten ethischen Bewertungen, aber abgetrennt davon. Dies ist sein hermeneutisch-wissenschaftlicher Zugriff auf das Thema. Auf diese akkurate Hermeneutik kann die theologische Betrachtungsweise stolz sein, eben weil sie leider beschämenderweise in den Kirchen nicht selbstverständlich ist. Denn allzu leicht ist es, zumal für ethisch interessiert Christ*innen, z. B. Pornographie in Bausch und Bogen zu verdammen. Dies geschieht oft in kirchlichen Kreisen, in freikirchlich-evangelischen zumal, aber auch selbstverständlich in katholischen, nicht nur konservativen Zusammenhängen. Hier wie dort gibt man sich einer Gratis-Empörung hin, die jedoch oftmals allzu heuchlerisch ist. Jedoch abzuwägen, wann und in welcher Form Pornographie abzulehnen ist und dabei einen sachlich-begründenden Ton anzuschlagen, das ist eine Kunst, die der evangelische Theologe Schreiber vorzüglich beherrscht. Wenn er dann noch Pädophilie nicht als eine ekelhafte menschliche Krankheit beschreibt, sondern das Phänomen sachgerecht darstellt, ohne damit Kindesmissbrauch auch nur minimal zu relativieren, dann fühlt sich der/die Leser*in informiert – und wohl. Ein Beispiel für ein auch sprachlich präzises Resümee bei sexuellem Missbrauch an Kindern lautet: „(…) Für die Bestimmung des Missbrauchscharakters sexueller Handlungen eines Erwachsenen vor, mit oder an einem Kind ist nicht nur unerheblich, ob diese Handlungen – wie die in der Literatur vielerorts begegnende zweiteilige Definition sexuellen Missbrauchs nahelegen könnte – gegen den geäußerten Willen oder ohne freiwillentliche Zustimmung des Kindes realisiert werden. Für die Bestimmung des Missbrauchscharakters dieser Handlungen ist ferner unerheblich, ob sie mit oder ohne Körperkontakt realisiert werden, was bei einer Beschränkung sexuellen Missbrauchs auf sexuelle Handlungen mit Körperkontakt zu der aus sexualethischer Sicht gänzlich inakzeptablen Konsequenz führte, der Nutzung von Missbrauchsabbildungen (‚Kinderpornographie‘) selbst den Missbrauchscharakter absprechen zu müsse (S. 601).“ Noch Fragen?

Leitmotiv seiner ethischen Bewertungen sind nicht zuvörderst moraltheologische Prinzipien, die sozusagen aus den Wolken hinuntergezogen werden auf die Erde. Schreiber lässt sich vielmehr vom sozialethischen universellen Grundprinzip der Gerechtigkeit leiten. Dies sei, so Schreiber ausdrücklich nicht ein Leitmotiv christlicher Ethik allein. Vielmehr könne christliche Theologie vom Gerechtigkeitsdiskurs der Gesellschaft noch lernen. Die lehrende, um nicht zu sagen belehrende Haltung der Kirche gibt Schneider dabei vollständig auf. Dafür begibt er sich in den grundlegenden sozialethischen Diskurs über Sexualität und Gewalt und tut das, was Kirche(n) insgesamt gut ansteht: nämlich sich einzureihen in einen informierten, wissenschaftlichen Austausch über die Grenzen der eigenen Disziplin der Theologie hinaus, um eine Gesellschaft zu prägen, in der sich jeder Mensch vom Zugriff eines anderen Menschen auf sein Intimstes sicher fühlen kann.

Als evangelischer Sozialethiker steht Schreiber durchaus auf dem grundsoliden Boden der evangelischen Theologie, hier aber auch nicht nur in der Tradition der eigenen Zunft der Ethiker, sondern breit aufgestellt im Diskursraum „seiner“ Kirche. Aber nicht nur das. Schreiber nimmt den moraltheologischen Diskurs der katholischen Kirche durchaus wach und aufmerksam wahr. Er wählt die einschlägigsten und instruktivsten Quellen und hat sich eingehend mit ihnen beschäftigt. Somit ist das Opus magnum – man kann es bei 850 Seiten gar nicht anders nennen – ein durchaus ökumenisches theologisch-wissenschaftliches Kompendium des sexualethischen Diskurses. Durchaus ermutigend für den rezensierenden Katholiken ist die angstfreie Diskussion auch über Differenzierungen, die in manchen eher traditionellen evangelischen wie katholischen Kreisen sicher keine Jubelschreie hervorrufen. Um der Sachlichkeit, Ausgewogenheit, Differenzierung und – sic! – der Gerechtigkeit willen muss Schreiber das Erforschte darlegen, seine tiefen Schürfungen darstellen und beschreiben. So kann man sich seinen mitunter mutigen Zugriff auf manche Tabuzonen des Sagbaren im kirchlichen Raum erklären.

Ich kann nicht sagen, ob ich – aus dem Fach Pastoraltheologie kommend – übertreibe mit meinem Vergleich, aber ich wage zu behaupten, dass Schreibers Buch vergleichbar ist mit Veröffentlichungen des bekannten, in diesem Jahr verstorbenen Sexualforschers Volkmar Sigusch, der spätestens mit seinem Buch „Sexualitäten“ (2013) einen Standard in der neueren Sexualforschung gesetzt hat. Schreiber, so will mir scheinen, tut Selbiges aus sexualethisch-theologischer Perspektive, aber ebenso unvoreingenommen und offen wie Sigusch einst in der „säkularen“ Sexualforschung. Was eine echte Kunst ist, ich schrieb es bereits. Denn wie kann man eine Ethik schreiben, ohne moralisch zu werden?

Die Antwort darauf bekommt, wer sich in das Buch vertieft. Man muss nicht (und man kann eigentlich auch nicht) das Buch am Stück lesen. Es reicht, sich die Kapitel, die für die eigene Auseinandersetzung wichtig sind, vorzunehmen. Man wird dort immer wieder einen Gerhard Schreiber finden, der akribisch den Dingen auf den Grund geht, die er behandelt.

Wenn ich beschreiben sollte, wie eine Theologie in der Zukunft betrieben werden kann, jenseits einer hermetischen Geheimwissenschaft von voraussetzungsreich Gläubigen, würde ich Schreibers Buch als Beispiel für eine christliche Sozialethik zu lesen empfehlen: Offen für gesellschaftliche Veränderungen, verwurzelt in der christlichen Botschaft vom Heil für alle Menschen und bereit, die Christuswirklichkeit auf den Straßen und in den Häusern zu finden.

Dr. Andreas Heek,

Leiter der Kirchlichen Arbeitsstelle Männerseelsorge und Männerarbeit der Deutschen Bischofskonferenz und Koordinator der Seelsorgenden mit LSBTI*-Menschen in den Deutschen Diözesen.

Stichworte: Sexualität

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