Gammerl, Queer

Gammerl, Benno, Queer, Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute, München (Hanser) 2023.

Der Rezensent ist katholischer Theologe und von der Bischofskonferenz beauftragt, die LSBTI*-Pastoral in den Diözesen zu bündeln und zu begleiten. Das muss vorausgeschickt werden, warum folgende Vorgehensweise beim Lesen des Buches gemacht wurde: Immer wenn die Kirche(n) eine Rolle gespielt haben in der Geschichte queeren Lebens in Deutschland, habe ich ein „Eselsohr“ ins Buch geknickt. „Nur“ acht Mal wird die Kirche erwähnt, undifferenziert nach Konfession. Aber leider – und das ist bemerkenswert und wenig überraschend – stets als eine Institution, die die Gleichberechtigungsansprüche von queeren Menschen in Deutschland behindert, wenn nicht gar verhindert hat. Stets hat sie den moralischen Unterbau geschaffen, auf der Gesetzgebung und gesellschaftliche Praxis aufbaute. Die bisher erreichte Emanzipation von LSBTI*-Personen hat also, so muss man daraus schließen, vollständig ohne die – mindestens – katholische Kirche stattgefunden. Ob diese Beobachtung stimmt, muss eine These bleiben. Denn noch steht für die katholische Kirche eine historische Aufarbeitung ihres Verhältnisses zu queeren Menschen in Deutschland aus. Sie war nicht die Intention des vorliegenden Buches, deshalb bleiben die Äußerungen dazu auch eher vage, aber in der Bewertung klar: Die Kirche(n) waren, grob gesagt und historisch betrachtet, gegen queeres Leben.

Benno Gammerl hat ein knappes, sehr gut zu lesendes Buch über die wechselvolle Geschichte queeren Lebens in Deutschland geschrieben. Schillernd ist die Geschichte deshalb, weil queeres Leben in Deutschland nicht ausschließlich eine Verfolgungs- und Verfemungsgeschichte war, sondern immer auch das, was sie heute immer noch, glücklicherweise immer offener ist: eine bunte, vitale Geschichte von gleichgeschlechtlich begehrenden und gendernonkonformen Menschen. Diese unterschiedlichen Gruppen, die sich bis heute untereinander auch nicht immer grün sind, haben allerdings eines gemeinsam: Queere Kultur insgesamt hat überlebt. Trotz Verfolgung, Kriminalisierung, Pathologisierung, Dissozialisierung hat sie sich behauptet, gewehrt, es wurde im „Untergrund“ geliebt, zusammengelebt, alles, was irgendwie möglich und nötig war. Das Buch zeigt eine enorme Resilienz der queeren Bewegung in Deutschland.

Bei genauerer Betrachtung sind zwei Erkenntnisse aus meiner Sicht besonders wichtig. Lesbische Frauen hatten es ungemein schwerer, in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu leben, als Männer, weil viele Frauen, besonders vor dem zweiten Weltkrieg, überwiegend abhängig waren von der finanziellen Versorgung eines Mannes. Männer waren insgesamt finanziell unabhängiger. Sie waren auch als „Junggesellen“ nicht sofort im Verdacht, homosexuell zu sein. Alleinlebende Frauen lebten oftmals finanziell prekärer. Wenn sie gleichzeitig in den Verdacht gerieten, lesbisch zu sein, wurden sie deshalb oft als asozial stigmatisiert. Sie landeten in der Regel zwar nicht im Gefängnis, weil der      § 175 StGB ausschließlich auf Männer abzielte, aber, was nicht minder schlimm war, oftmals in der Psychiatrie, aus der man nicht leicht entkommen konnte, weil es kein „Strafmaß“ gab, das auch einmal endete wie bei den Männern.

Eine weitere Erkenntnis ragt aus der Historie als Warnung in die Gegenwart hinein. Immer wieder wurde mit dem Vorwurf der Homosexualität versucht, Andersdenkende zu diskreditieren und zu verfolgen. Gibt es also in einer Gesellschaft eine (moralisch) verfemte Minderheiten-Gruppe, kann diese relativ leicht benutzt werden, um Menschen ins Abseits zu stellen, zu verfolgen oder gar zu töten. Das Muster wird in vielen Ländern der Erde heute noch angewandt. Ein unpräzises Shaming mit einem Anschlag auf die moralische Integrität reicht, um Menschen zu zerstören, wenn queere Identität als solche als diskreditiert gilt. In Deutschland wird in ähnlicher Weise ungenau Front gemacht gegen „Gender-Ideologie“ und „Frühsexualisierung“, um eigentlich nicht sagen zu müssen, dass man Queer-Sein grundsätzlich schändlich findet. Kirchenmitglieder, sicher und hoffentlich nur wenige, beteiligen sich zum Teil rege an Debatten, die queere Menschen aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen wollen.

Die Geschichte, die Gammerl hier in diesem kompakten Wurf „Queer“ darstellt, lehrt eines: Auch schlimmste Verfolgungen bis hin zu massenhaften Ermordungen während der Nazi-Diktatur konnten queeres Leben nicht eliminieren. Es gehört zum Menschsein dazu. Die Vielfalt geschlechtlicher Identität ist groß und sexuelle Präferenzen einfach unterschiedlich. Ausgestorben ist die Menschheit deswegen nicht.

Rosig sind die Aussichten für queere Menschen in Deutschland dennoch nicht. Immer noch müssen viele mit Vorurteilen und Ausgrenzungen leben. Die wichtigen Gesetze: Dokumentierung eines dritten Geschlechts bzw. „divers“, „Ehe für alle“ und das „Selbstbestimmungsgesetz“ sind zwar Meilensteine deutscher queerer Emanzipations-Geschichte. Die Transformation kirchlicher Lehre hingegen steht noch aus. Kleine Lichtblicke gibt es aber auch hier: Die Stellungnahmen des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK) zu diesen Gesetzen waren seit den 10er Jahren dieses Jahrhunderts unterstützend und wohlwollend. Das rehabilitiert die katholische Kirche sicher noch nicht – historisch gesehen auch nicht das ZdK. Das derzeitige „Ja, nein, vielleicht“ der katholischen Kirche bietet queeren Gläubigen immer noch nicht wirklich Sicherheit. Aber der Weg hin zu einem deutlicheren „Ja“ ist spätestens seit dem „Synodalen Weg“ eingeschlagen.

Ein Kritikpunkt muss dem Buch allerdings gemacht werden. Es wollte eine Geschichte von „Queer“ schreiben, lässt außer beim Wording aber fast vollständig intergeschlechtliche Menschen unbetrachtet. War diese Gruppe schlecht vernetzt und deshalb historisch schlecht fassbar? Und dann: Gab es keine Verfolgung? Keine Zwangsoperationen? Das wäre eine Betrachtung wert gewesen, finde ich. Vielleicht in einem nächsten Buch!

Dennoch: Chapeau für dieses Werk. History ist about the past, but for the present! Mehr davon bitte!

Dr. Andreas Heek, Leiter der Arbeitsstelle Männerseelsorge der Bischofskonferenz und Fachbereichsleiter LSBTI*-Pastoral in den deutschen Diözesen

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