Graf, Troelzsch, Theologie im Welthorizont

Friedrich Wilhelm Graf, Ernst Troeltsch, Theologe im Welthorizont. Eine Biografie, Beck Verlag (München), 2022

Was treibt einen profunden Kenner und Herausgeber der Schriften Ernst Troeltschs, den emeritierten systematischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf, der den großen Teil seines eigenen wissenschaftlichen Schaffens dessen Ideen gewidmet hat, dazu, auch noch eine Biografie zu schreiben? Ist es lediglich eine tiefe Wertschätzung für den Theologen-Kollegen, Religionsphilosophen, Mitbegründer der Soziologie, den Zeit- und (mit Einschränkungen) Gesinnungsgenossen Max Webers, den deutschen Weltbürger, der nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs als früher Mitgestalter der jungen Weimarer Republik über die Landesgrenzen von sich reden machte? Und was treibt einen katholischen, praktischen Theologen (mich) dazu, ein Buch über einen protestantischen Theologen zu besprechen? Fragen, deren Antworten möglicherweise für die derzeitige Theologie und Lage der Kirche(n) nicht unwichtig sein könnten.

Ernst Troeltsch steht zu Unrecht, wie nach der Lektüre dieses überragenden Buches überdeutlich wird, im Schatten von Max Weber. Dessen Theorie über die Grundlegung des modernen Kapitalismus in der protestantischen Leistungsethik wird bis heute von vielen Religionssoziologen fast als kanonisch betrachtet. Dabei ist Troeltsch der Tieferbohrende als Weber, wenn es um die Religionsgeschichte geht. Denn im Gegensatz zu Weber denkt Troeltsch aus der Mitte protestantischen Glaubens heraus, auch wenn seine religionsgeschichtlichen und -philosophischen Analysen weit über die Dogmatik seines eigenen protestantischen Bekenntnisses hinausgingen.

Troeltsch, geboren 1865, entstammte einer protestantischen Familie wie sie typischer im 19. Jahrhundert nicht sein könnte. Zutiefst in Frömmigkeit und Kultur des bayerischen, genauer Augsburger Protestantismus verbunden, studierte er evangelische Theologie, war dann vor seinem dreißigsten Lebensjahr schon Professor für Theologie in Heidelberg. Er saugte alles Wissen über seine eigene Religion auf, interessierte sich aber auch schon sehr früh für zeitgeistige gesellschaftliche Fragen. War neugierig für alles Neue, egal ob theologischer, philosophischer, geschichtlicher oder soziologischer Provenienz. Sein Lesepensum muss enorm gewesen sein. Rieb sich schon seit Beginn seiner akademischen Karriere an den erstarrten theologischen Plattitüden seiner Zunft und geriet schnell in Konflikt mit Kollegen, die alles andere als Wandel im theologischen Denken wollten.

Wie konnte das passieren? Allein aus seiner Intelligenz, seiner schnellen Auffassungsgabe, seinem „Bücherfressen“ ist dieser Wille, neue Wege zu gehen, hin zu einer universellen Ausrichtung von Religion und ihrer Werte, nicht recht zu erklären. Lebenslang blieb er zwar bei aller Rebellion gegen das theologische Establishment doch immer auch ein Mann der Mitte bis hin zu einer allzu geschmeidigen Anpassung an den Zeitgeist, rückblickend betrachtet, von dem später noch zu sprechen sein wird. Aber seine Originalität und Gegenläufigkeit zum theologischen Mainstream seiner Zeit war doch ungewöhnlich. Warum also diese atemberaubende Entwicklung in einem nicht sonderlich langen Leben (1865-1923)?

Vielleicht, und das ahnt oder weiß Graf sicher viel besser, als er darüber in den Quellen finden kann, liegt es an einem biographischen Detail, das von seiner Nachwelt so gut es ging, verwischt bzw. ausgemerzt wurde: Denn Troeltsch war wahrscheinlich bisexuell. Als junger Student war er sehr eng befreundet mit Karl Busch, einem Verbindungsbruder der studentischen Verbindung, in der Troeltsch sehr engagiert war. Dieser wurde 1909 wegen homosexueller Sittlichkeitsverbrechen zu einer dreijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Auch zu einem anderen Verbindungsbruder unterhielt Troeltsch eine enge Beziehung: dem Pfarrersohn Wilhelm Bousset. Briefe an unterschiedliche Männer seines Alters und sein Zögern vor dem Eingehen einer Ehe legen nahe, dass Troeltsch homoerotische Gefühle hatte, diese aber auch wegen des homophoben Zeitgeistes nicht ausleben konnte. Graf schreibt süffisant: „Vieldeutigkeit und ungeklärte Fragen bleiben (82).“ Bei der historischen Rekonstruktion seines Lebens seien noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einige Briefe und Karten Toeltschs an Bousset vernichtet worden. Troeltschs Unbehagen mit diesen gesellschaftlich und kirchlich non-konformen Gefühlen, von ihm selbst als „kitzliche“ Themen bezeichnet, könnte eine wichtige biographische Erklärung dafür sein, warum Troeltsch sein ganzes Leben lang das „Darüberhinaus“ der Konvention gesucht hat. Sich nicht zufrieden gab mit vermeintlichen Eindeutigkeiten und intellektuellen Verengungen.

Es trieb ihn weit hinaus. In Heidelberg wurde er wurde zum Prorektor der dortigen Universität ernannt. Als solcher kam er, auch nach seiner einjährigen Amtszeit, in Kontakt mit der Bildungspolitik des Großherzogentums Baden. Hier sammelte er erste Erfahrungen politischen Networkings. 1906 war Troeltsch in Heidelberg schon ein hoch angesehener Wissenschaftler, weit über seine theologische Zunft hinaus. Man interessierte sich für Troeltschs Gedanken. Eben weil er sich immer mehr weitete, sich öffnete für die fragilen anthropologischen und soziologischen Fragen einer sich stets beschleunigenden Zeit.

Nach Berlin ging Troeltsch 1913 dann nicht mehr an die theologische, sondern als Ordinarius für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte an die philosophische Fakultät. Dies war eine Zäsur für ihn persönlich hin zu noch mehr Freiraum, seine Forschungen zum universellen religiösen Bewusstsein voranzutreiben. Kurz nach dem Beginn seiner Berliner Zeit begann der Erste Weltkrieg. Eng verknüpft mit dem politischen Establishment des Kaiserreichs wurde er zu einem enthusiastischen Förderer der Kriegsbegeisterung, ein loyaler Royalist, der sich von der Kriegsbegeisterung am Anfang des Ersten Weltkrieges mitreißen ließ. Die Zeitgeistnähe, die ihn in Berlin durch zahlreiche Zeitungsartikel und Buchbeiträge zu einem der angesehensten Zeitdiagnostiker machte, birgt auch immer eine Gefahr: nah sieht man zwar oft mehr, aber manchmal eben auch zu kurz. Umso erstaunlicher ist es, dass seine „praktische Vernunft“ ihn nach dem Ende von Krieg und Kaiserreich zu einem leidenschaftlichen Gestalter und Verteidiger der jungen, Weimarer Republik werden ließ. Er war zeitweise Zugpferd der liberalen „Deutschen Demokratischen Partei“ und zog 1919 in die erste Weimarer Nationalversammlung ein. Dort setzte er sich stets für eine „soziale Demokratie“ ein, ohne Sozialdemokrat zu werden. Er beklagte mitunter, dass die katholische Zentrumspartei nicht offen sei für evangelische Christen, um die christliche Prägung der jungen Republik ökumenisch stärker werden lassen zu können. Auch hier zeigte sich wieder seine Mittigkeit in den konkreten Ausgestaltungen seiner theoretischen Auseinandersetzung. Radikal zwar im Denken war er stets ein pragmatischer Politiker.

Immer stärker wurde seine Bekanntheit. Sogar in England, das er während des Krieges in einigen Reden noch nahezu verteufelt hatte, interessierte sich die akademische Klasse für seine Auffassungen zur Bedeutung der Religion für das moderne Gemeinwesen und lud ihn zu Vorträgen ein. Immer abgehetzter wirkt sein Arbeitsplan, was auch seine Popularität bewirkt hat, die er sicher genoss. Am Ende war er möglicherweise erschöpfter von allem, als er selbst gespürt hat und zugeben wollte, dieser starke, fast rustikal wirkende Mann, der immer aus der Mitte einer schieren Unverwüstlichkeit geschöpft zu haben schien. Von einer durch Lungenthrombose geschwächten Herzattacke erholte sich Troeltsch nicht und starb überraschend am 1. Februar 1923 im Alter von nur 58 Jahren.

Was bleibt? Unter anderem ein leider fast vergessener Vordenker einer weit ausspannenden Religionsphilosophie. Seine religionsgeschichtlichen Studien verdienten bis heute einer weiterführenden Analyse. Sie geschieht selten wie z.B. durch den Religionsphilosophen Hans Joas, der Troeltsch in einer Linie mit Paul Tillich, David Martin, Robert Bellah, Paul Ricoeur und Wolfgang Huber sieht (vgl. Hans Joas, Im Bannkreis der Freiheit, Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche, Berlin 2020). Außer erstgenanntem Joas, der sich in der Gedankenlinie mit Troeltsch verbunden weiß, sind die anderen Religionstheoretiker alle Protestanten. Was natürlich keinesfalls schlimm ist. Auf meine Frage an Joas in einem Telefongespräch, warum es in der katholischen Kirche so wenig den Horizont erweiternde Religionstheoretiker gebe, antwortete Joas sinngemäß, das liege vielleicht daran, dass die katholische Kirche in den letzten einhundertfünfzig Jahren der akademischen Auseinandersetzung mit religionstheoretischen Fragen durch ein rigides Lehramtsverständnisses zu enge Grenzen gesetzt habe. Wenn diese These stimmen sollte ist das schlimm, finde ich.

Umso reizvoller, instruktiver und gewinnbringender ist die Beschäftigung mit den genannten Größen der meist protestantischen Religionsphilosophie. Friedrich Wilhelm Graf hat eine große biographische Würdigung Troeltschs dazugelegt und gezeigt, dass Leben, Glauben und wissenschaftliche Forschung einander bedingen und bereichern. Als Katholik ein wenig neidisch auf die Möglichkeiten protestantischer intellektueller Weite schauend rufe ich umso freudiger: Es lebe die Ökumene!

Dr. Andreas Heek

Arbeitsstelle Männerseelsorge und Männerarbeit in den Deutschen Diözesen

Bundesarbeitsgemeinschaft für Queerpastoral in den Deutschen Diözesen

Stichwort: Biographie

Related Posts

Neueste Buchbesprechungen

Roesler, Partnerschaftsgewalt und Geschlecht
29. April 2025
Schubert, Christus (m/w/d)
29. April 2025
Rostalski, Die vulnerable Gesellschaft
27. März 2025
Lampert, Die sprachlose Seite der Gewalt
27. März 2025
Fritsche, Über die Unwahrscheinlichkeit der Männlichkeitsforschung
20. Februar 2025
Lehner, Ohne dich
23. Januar 2025

Themenbereiche

Archiv der Beiträge