Der Film „Perfect Days“ kann zu Tränen rühren. Ganz unverhofft. Und wenn es Tage nach dem Kinobesuch passiert. Dieser Film hat es also in sich. Er ist wunderschön. Und schmerzhaft. Aber der Reihe nach.
Hirayama (gespielt von Kōji Yakusho, der bei den Filmfestspielen in Cannes 2024 den Preis „Best Actor“ erhielt) ist ein Mann schätzungsweise Anfang 60, und verdient in Tokyo als Toilettenputzer sein Geld. Dass er preisgekrönte Designertoiletten putzt, tut eigentlich nichts zur Sache. Die Tätigkeit bleibt, was sie ist: ein Job am umgekehrten Ende der Karriereleiter. Aber anscheinend nicht für Hirayama. Seine wohlorganisierte Routine: morgens aufwachen durch das Geräusch eines Besens auf der Straße, Morgentoilette, eine Dose Eiskaffee aus dem Automaten ziehen, bevor er ins Auto steigt und losfährt, um dann eine bestimmte Anzahl von öffentlichen Toiletten zu putzen. Mittagspause in einem Park, wo er mit einer alten Kamera Fotos macht, meistens von einem Baum, der seinen Essplatz beschattet. Und so weiter den ganzen Tag, bis ihm abends über einem Buch (anspruchsvolle Literatur aus einem Antiquariat für preiswerte Bücher) die Augen vor Müdigkeit zufallen. Das könnte alles lediglich ein meditativer Film sein, der die Zuschauenden einlädt, achtsam auch seinen: ihren Alltag zu durchschreiten, auch wenn die Arbeit darin bestehen mag, die „Scheiße“ von anderen zu beseitigen. Jede:r könnte Analogien zu seinem Alltagsleben finden. Und es damit auf sich beruhen lassen.
Aber da ist noch eine andere Schicht. Die Rocklieder aus den 70er Jahre des letzten Jahrhunderts (oftmals wunderbar melancholisch, hochklassige Musik übrigens!), das vorsintflutliche Klapphandy von Hirayama, die analoge Kamera mit Filmrolle, die er wöchentlich in einem Fotogeschäft entwickeln lässt, seine fast schmerzhafte Wortkargheit. Die Beflissenheit bei der Arbeit, die Schüchternheit und Zurückhaltung im Umgang mit anderen Menschen scheinen mehr zu sein als der Ausdruck für die sprichwörtliche japanische Höflichkeit. Aber was ist dieses Mehr?
Hirayama ist Träger eines tiefen Schmerzes. Eines Schmerzes, den er gekonnt einzuhegen versteht durch Routine, exakten Arbeitsethos (mit einem Taschenspiegel schaut er unter den Toilettenrand auf der Suche nach verstecktem Schmutz) und durch Beheimatung im Stadtviertel zu Füßen des gigantisch großen Fernsehturms „Tokyo Skytree“ (sic!), dessen Beleuchtungsrand im Sekundentakt um die Rundung oben pulsiert. Die Wäscherei, in der er jede Woche seine Wäsche bringt. Der Schnellimbiss in einer unterirdischen, ziemlich unhübschen Mall. Die außergewöhnliche kleine Bar, in der er an seinem freien Tag etwas luxuriöser isst und wo er schüchterne, aber vertraute Freundschaften pflegt und deren Besitzerin ab und zu und hinreißend für die Stammgäste singt. Die Lebenskunst von Hirayama besteht darin, sich mit allem um sich herum zu verbinden. Dies ist seine außergewöhnliche Fähigkeit. Vielleicht auch seine einzige Lebensversicherung. Er wirkt weder verbittert noch zynisch. Er genießt vielmehr das Rauschen des Baums vor seiner winzigen Wohnung beim ersten Atemzug des Tages draußen, lächelt dem psychisch auffälligen Obdachlosen zu, hegt und pflegt „Baumfindlinge“ in seiner Wohnung mit einer herzzerreißenden Zärtlichkeit. Von Arbeitsort zu Arbeitsort hört er Musik von alten Musikkassetten; stellt er den Motor ab, erstirbt sofort die intensive Musik.
Man spürt es den ganzen Film über, was erst in der Schlussszene des Films deutlicher zum Ausdruck kommt: Nein, es ist wirklich nicht die Melancholie eines alternden Mannes, den irgendein Schicksal dahin gebracht hat, wo er sich jetzt befindet. Da ist dieser tiefe Schmerz. Wir erfahren nichts darüber, worin er besteht. Wir schauen diesem Mann nur ins Gesicht, frontal und in Leinwandgröße. Das Glück des frischen Tages, während Hirayama wieder losfährt und die großartige alte Musik hört, schwindet. Mit der aufsteigenden Sonne steigen ihm die Tränen in die Augen. Der Schmerz kommt hervor und ergreift ihn. So fährt er dahin, in seinen neuen Tag.
Das Rätseln darüber, was mit Hirayama los sein mag, verstellt mir zwei Tage lang den Blick. Aber dann: kommen auch mir die Tränen.
Dr. Andreas Heek, Pastoraltheologe, leitet die kirchliche Arbeitsstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit in den deutschen Diözesen und koordiniert die Bundesarbeitsgemeinschaft für Queerpastoral in den deutschen Diözesen.
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