Pierre Stutz, Lass dich nicht im Stich
Die spirituelle Botschaft von Ärger, Zorn und Wut
Patmos 2017
Es geht um ein wichtiges Thema: um Gefühle. Männern wird nachgesagt, dass sie im Wahrnehmen von Gefühlen nicht die Stärksten sind, aber im Ausleben derselbigen. So auch(oder besonders?) bei der Gefühlsmelange Ärger. Psychologisch betrachtet, neigen Männer eher zum Führen eines „Rabattmarkenheftchens“ unbequemer Gefühle, dessen „Einlösung“ oft in einem heftigen Gefühlsausbruch endet.
Pierre Stutz versucht in seinem Buch, den wichtigen Gefühlen von Ärger, Zorn und Wut von der spirituellen Seite näher zu kommen. Er fragt nach den Ressourcen, die freigelegt werden können, wenn Gefühle wahr- und ernst genommen werden und sie dann auch in angemessener Weise geäußert werden. Aber was ist angemessen? Ist ein Zornesausbruch nur angemessen, wenn er heilig ist? Aggression heißt wörtlich übersetzt „sich zubewegen“, „sich nähern“, „heranschreiten“, aber auch „angreifen“. Dabei merkt man schon, dass der Begriff mehrdeutig und schillernd ist und eine große Bandbreit umfasst. Von „Heiligkeit“ zunächst keine Spur. Vielleicht kann man es so sagen: ist ein Gefühl echt und wird es unter Beachtung der sozialen Regel, dass die Äußerung des Gefühls die Grenze des anderen nicht verletzen darf, verbalisiert, kann auch Wut eine wertvolle Ressource sein.
Auf der individuellen Ebene – und um diese geht es bei Stutz vor allem – behandelt er das Thema in Kapitel, die Hilfe auf dem Weg zum angemessenen Umgang mit der Aggression sein können: „Selbstvertrauen entfalten“, „Mich wehren können“, „Authentisch werden“, „Selbstverantwortung übernehmen“ „Mich nicht an Ungerechtigkeiten gewöhnen“, „Die Spirale der Gewalt durchbrechen“, „Gewaltfrei kommunizieren“. Die Selbstreflexion spielt dabei eine wichtige Rolle, wie man an den Kapitelüberschriften sehen kann. Dabei erspart Stutz sich nicht, persönliche Erfahrungen zu beschreiben. Besonders schwierig muss das Thema für den Autor sein, weil er selbst Opfer einer extremen Gewalterfahrung geworden ist und Aggression deshalb für ihn ambivalent ist. Umso beeindruckender ist, dass er sich mit dem Thema öffentlich beschäftigt. Sicher macht die Mischung aus persönlicher Authentizität und spiritueller Reflexion den großen Erfolg aus, den Stutz mit seinen Büchern und Vorträgen seit vielen Jahren hat.
Wäre eine Rezension ein Wunschkonzert (was es aber eindeutig nicht ist und nichts über die Qualität des Buches aussagt), hätte ich mir ein spirituelles Männerbuch gewünscht. Es ist nämlich anzunehmen, dass sich männliche von weiblicher Aggression unterscheidet. Und so ist der Umgang mit dem „nähernden“ Gefühl Aggression sicher für Männer ein anderer als für Frauen – evolutiv verankert und sozial weiterentwickelt in unserer Zeit. Doch auch ohne „Wunschkonzert“ finden Männer Anregungen für ein Nachdenken über das so oft verleugnete bzw. „verkleidete“ (was auch schlimm ist) Gefühl der Aggression.
Zumindest kann man festhalten, dass zumindest für Mitteleuropa gilt, dass nach den verheerenden Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts offenbar die Einsicht gewachsen ist, dass „plattgesessene Hintern“ (Joschka Fischer) an den Verhandlungstischen von Brüssel besser sind als das leichtfertige Greifen zur Waffe Volk gegen Volk. Indirekt ist dieses Buch somit auch eine Bestärkung in den Bemühungen, Konflikte jeglicher Art zivil, d.h. gewaltfrei zu lösen.
Dr. Andreas Heek