Dominik Riedo, Nur das Leben war dann anders – Nekrolog auf meinen pädophilen Vater
Psychosozial Verlag (Gießen) 2019
Der Tod seines pädophilen Vaters ist für den Autor der Anlass, schreibend nach Erklärungen für dessen Leben zu suchen. In dem vielschichtigen Text werden eigene Erinnerungen – er wurde selbst nicht Ofer seines Vaters- mit Tagebucheinträgen, Briefen, Aufzeichnungen seines Vaters sowie Außensichten wie Polizeiprotokollen, Gutachten und Gerichtsurteilen kombiniert.
Der Autor lässt seinen Vater zunächst vor allem durch Selbstzeugnisse nahbar werden, er zeigt aber auch seine Ambivalenz gegenüber seinem Vater, bei dessen Fürsorglichkeit und Verständnis er auch ein latentes sexuelles Interesse vermutet.
In einer Art Lebenslauf wird uns die Entwicklung des Vaters und seine familiäre Situation nähergebracht. Wie er am Anfang seine sexuelle Neigung leugnete und sich später gegenüber der Gesellschaft verstellte. „Ab nun wusste er, dass er nicht normal war, nicht normal wurde, dass er höchstens nach außen als normal gelten konnte.“ Für ein mögliches folgendes Leben wünscht er sich u.a. keine Veranlagung, die in der Gesellschaft verschmäht und geächtet wird. Detailliert werden auch das Leiden und die Einsamkeit des Vaters u.a. aufgrund seiner gestörten Beziehungsfähigkeit zu erwachsenen Menschen. geschildert. Tagesbucheinträge des Vaters illustrieren dies. Und immer wieder die Frage „Warum müssen Menschen eine Veranlagung haben, die nicht akzeptiert wird?“
Dann fließen aber auch vermehrt gesellschaftliche Auswirkungen in das Buch ein. Viele Menschen behandeln den Autor, als wäre er ein Aussätziger. Der Autor fragt sich ob die Menschen wohl dachten, dass sich die Pädophilie auf ihn übertragen hätte oder in ihm keime?
Der Autor versucht, den eigenen Vater zu rekonstruieren, ihm näher zu kommen aus dem Nachlass und den Bildern, die er von ihm hatte. Und er fragt dann nach Konsequenzen und Maßnahmen bei solchen Handlungen seines Vaters und er stellt sich die Frage „Wer bin ich heute, da ich sein Sohn bin?“
Der Nachruf eröffnet neuen Perspektiven. Dabei geht es einerseits um die Auswirkungen der Stigmatisierung der Betroffenen auf ihre Familien, andererseits um einen intimen und vielschichtigen Einblick auf die individuelle Entwicklung einer solchen Vorliebe und in das Seelenleben seines Vaters. Daneben zeichnet dieses lesenswerte Buch aus, dass es neben der Vater-Sohn Geschichte auch Fragen an die Gesellschaft in Hinblick auf den Umgang mit den Tätern stellt. Ein nicht ganz einfaches, aber notwendiges Buch.
Jürgen Döllmann