Maia Kobabe, Genderqueer, Eine nichtbinäre Autobiographie, Berlin (Reprodukt) 2024
Dieses Buch ist in aller Munde. So sehr, dass es in den USA in einigen Bundesstaaten auf einer Art Index für öffentliche Bibliotheken geschafft hat, damit es nicht in Kinder- und Jugendhände gerate. Worum geht es?
Maia Kobabe schrieb 2019 schon diese Graphic Novel über ihr Leben, genauer über ihr Coming Out als nonbinäre Person. Über ein Leben auf der Suche nach Identität als junger Mensch. Schon immer suchte die junge Generation danach, wer sie ist und wofür sie auf der Welt ist – ihre Berufung. Heute wird diese Suche erweitert auf den Bereich geschlechtlicher Verortung und sexueller Orientierung, manchmal eben auch jenseits der binären Zuordnung der Geschlechter. Dies ist nur logisch, wenn seit vielen Jahrzehnten darüber nachgedacht wird, Menschsein als Gleichwürdigkeit zu definieren unabhängig vom Geschlecht. Vorher, in patriarchalen Zeiten wurde Menschsein stets an Männlichkeit gemessen. Zumindest in westlichen Gesellschaften. Dabei galten sowohl Frauen im Vergleich zu Männern als Mängelwesen, als auch Männer, die dem heteronormativen Bild eines „echten“ Mannes nicht entsprachen. Das ist leider noch nicht so lange her, als dass die tiefen Gravuren dieses männlich-normativen Menschenbildes nicht mehr sichtbar wären.
Unwohlsein mit dem eigenen Körperbild, der geschlechtsspezifischen Rolle, deren Performanz und der nur heterosexuellen Orientierung gibt es wohl schon so lange, wie es Menschen gibt. Differenziertere Begriffe dafür gibt es hingegen noch nicht so lange und wenn, dann nur in sexualwissenschaftlichen Diskursen. Junge Menschen wenden diese neuen Begriffe probeweise auf sich selbst an, beschäftigen sich mit Gefühlen und ihrem Körperbild, das nicht immer zu dem passen mag, wie sie sich wahrnehmen. Die:der Protagonist:in des Comics ist eine:r davon; und die:der Autor:in macht kein Hehl daraus, dass es zwischen Comic-Figur und Autor:in nicht viel Unterschied gibt. Geisteswissenschaftliche Diskurse und neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse finden immer häufiger im Bewusstsein junger Menschen und deren Lebenspraxis zusammen. Und sie fordern Geschlechtergerechtigkeit in einem erweiterten Sinne.
Dies scheint in den polarisierten USA zum Teil anstößig zu sein, so sehr, dass dieses ehrliche Buch der Suche einer Person nach sich selbst zum Politikum wurde. Aber auch in Deutschland scheint geschlechtliche Vielfalt für manche provokativ zu sein. Besonders im rechten politischen Spektrum wird verstörenderweise erneut eine Männlichkeit gefeiert, die sich als überlegen darstellt, frauenverachtend ist, Frauen wieder in „traditionelle“ Rollen pressen will und gegen queere Identitäten Front macht. Dass es im Gender-Shift noch andere Geschlechter gibt als „Mann“ und „Frau“ ist hingegen nicht nur in diesen Kreisen umstritten. Auch innerhalb der Kirche wird darüber diskutiert, ob die sogenannte Geschlechterordnung mehr als zwei Geschlechter kennt. Das kirchliche Lehramt hat sich bisher in dieser Frage relativ zurückgehalten, obwohl es an der kirchenpolitischen Oberfläche viel Polemik mit dem nebulösen und wissenschaflich unsauberen Begriff der „Gender-Ideologie“ gibt, die letztlich die Existenz weiterer geschlechtlicher Identitäten unter anderem als Zerstörung der Familie brandmarkt. Naturwissenschaftlich und christlich-ethisch ist dies mindestens unterkomplex.
Besonders umstritten ist nicht nur in kirchlichen Kreisen allerdings, wie man mit Kindern und Jugendlichen über Geschlechtsidentitäten spricht. Man solle dies gar nicht tun, empfehlen manche, denn dies führe zu Frühsexualisierung. Ich empfehle diesen Comic ausdrücklich Kindern und Jugendlichen, die sich mit Fragen ihrer geschlechtlichen Identität und sexuellen Orientierung beschäftigen. Kobabe enttabuisiert die wichtigen Fragen auf einfühlsame Weise und rückt sie ins Licht. Das Leiden an der Unsicherheit der Orientierung kommt darin genauso vor wie die Begeisterung, wenn die Heldenperson auf gleichgesinnt Suchende trifft. Gerade Kinder und Jugendliche, die ein diffuses Unwohlsein empfinden, sollten früh in Kontakt kommen mit möglichen Antworten und Role-Models. Deren Eltern im Übrigen auch, denn ihre Unsicherheit und Sorge sind groß und drücken sich nicht selten darin aus, dass sie dem Kind seine Suche nach der individuellen Geschlechtlichkeit auszureden versuchen. Mit möglichen großen Schäden für die seelische Gesundheit ihrer Kinder.
Berührend ist das, was Kobabe über sich selbst schreibt. Dies ist auch gleichzeitig der Ansatz, den ich für die katholische Kirche empfehle: in die Nähe kommen, zuhören, hinschauen, Verwirrung aushalten, sich für Neues öffnen. Der Lebensbericht lässt niemanden* kalt. Wenn, aber nur wenn man bereit ist, sich auf Menschen einzulassen. Aber ist dies nicht der Glutkern des Christentums?
Ich wünsche diesem wertvollen Buch diejenige große Verbreitung, die die Resonanz im Netz vermuten lässt.
Dr. Andreas Heek leitet die Arbeitsstelle Männerseelsorge und Männerarbeit in den Deutschen Diözesen und koordiniert die Bundesarbeitsgemeinschaft für Queerpastoral in den Deutschen Diözesen.
Stichwort LSBTI