Anselm Schubert, Christus (m/w/d). Eine Geschlechtergeschichte, München (C.H.Beck) 2024.
Aktueller als dieses Buch kann eine geistesgeschichtliche Revue nicht sein. Der Titel allein lässt aufhorchen: „Christus, männlich, weiblich, divers.“ Oha! Das ist eine Ansage. Derzeit findet, durchaus nicht neu, aber intensiv verstärkt durch innerkirchliche Auseinandersetzungen zu dem Begriff „Genderideologie“ ein Diskurs darüber statt, welches Gewicht Geschlechter- für Glaubensfragen haben. Auch die Person Jesus Christus wird hier immer wieder als Bezugspunkt hergenommen, gerade wenn es einmal mehr um die gerechte Verteilung von Macht zwischen den Geschlechtern innerhalb der Kirche geht. Zugespitzt gefragt: Hat das Geschlecht Christi Bedeutung für die Frage, ob Frauen und queere Menschen zum Priesteramt zugelassen werden können? Um es vorwegzunehmen: nein, hat es nicht, so muss man nach der Lektüre des Buches sagen.
Detailreich untersucht Schubert gefühlt alles, wessen er historisch habhaft werden kann, wenn es um die Geschlechtlichkeit Jesu geht. Allein dafür gebührt dem Kirchenhistoriker aus Erlangen großer Respekt. Wenig Zweifel besteht weithin darin, dass Jesus genetisch männlichen Geschlechts war. Damit ist aber eigentlich noch gar nichts, vor allem Theologisches, gesagt. Daraus eine „natürliche“ Hegemonie von Männermacht in der Kirche abzuleiten, wäre aus Schuberts Sicht nahezu lächerlich. Denn WER Jesus WIRKLICH war, darüber wurde in der Christentumsgeschichte viel nachgedacht, spekuliert, ersehnt. Letztlich spiegeln sich in den Jesus-Bildern durch zwei Jahrtausende vor allem Letzteres: die Sehnsüchte der Gläubigen. Da der historische Jesus wenig fassbar ist, bietet er sich als Chiffre für viele Wünsche an. Was manchmal zu grotesken Annahmen und Hypothesen verleitet hat, wie man ausgiebig in Schuberts Ausführungen nachlesen kann. Manchmal wird die Geduld der Lesenden dabei etwas strapaziert. Aber man kann die zum Teil abstrusen Spekulationen durch die Geschichte hindurch auch mit etwas Humor verfolgen. Dann erkennt man vor allem eins: Deren Zeitbedingtheit und die Intentionsgeleitetheit.
Ein immer wiederkehrendes Topos Jesu Geschlechtlichkeit betreffend zieht sich in gewisser Weise wie ein roter Faden durch die gesamte Wirkungsgeschichte dieser Person: seine angebliche Androgynität. Fußend auf dem antiken Bild eines idealen Mannes und die dem widersprechende biblischen Erzählungen von Jesus, z.B. über seine notorische Frauenfreundlichkeit und sein „unmännlicher“, d.h. erniedrigender Tod am Kreuz, will Jesus in das klassische Bild eines Mannes einfach nicht hineinpassen. Und so bildet Jesus eine ideale Projektionsfläche für Sehnsüchte der jeweiligen Zeitgeistigkeit.

Aber genau das ist eine gute Nachricht. Wer erwartet, dass eine wirkungsgeschichtliche Betrachtung Jesu seine „eigentliche“ Geschlechtlichkeit hervorbringen würde, wird enttäuscht. Weder kristallisiert sich der patriarchale antike Mann Jesus als „echt“ heraus, noch lässt sich eine wie auch immer geartete Queerness als „letzte“ Wahrheit über das Geschlecht Christi herausarbeiten. Über die geschlechtliche Identität Jesu Christi müssen sich interessierte Christ:innen also weiterhin selbst einen Reim machen.
Theologisch folgt Schubert eher Karl Rahner in dessen Bewertung der Männlichkeit Jesu Christi: Das Geschlecht Christi sei „heilsgeschichtlich ebenso irrelevant wie andere körperliche Eigenschaften Christi, etwa seine Körpergröße oder Augenfarbe (S. 252).“ Ob nun unter den damaligen männlich-hegemonialen gesellschaftlichen Bedingungen die Inkarnation Christi als Frau dieselbe starke Resonanz hervorgerufen hätte, ließe sich im Nachhinein nicht sagen. Historisch-theologisch betrachtet lässt die Lektüre der Ausführungen Schuberts jedenfalls nicht den Schluss zu, dass das männliche Geschlecht Jesu eine theologische Funktion gehabt hätte, außer die, dass Gott Mensch geworden ist. Dass Gott ein Mann wurde, kann hingegen keine theologische Aussage sein, es sei denn, man verstrickt sich in die antik-hegemonialen Männerkonstruktionen.
Aber genau das kann dieses Buches hervorragend herausarbeiten: Mit der Geschlechtlichkeit Jesu Christi kann keine Kirchenpolitik gemacht werden. Dass Christus ein Mann gewesen ist, berechtigt niemanden, seiner Männlichkeit als einzige Weise der Inkarnation Gottes eine ontologische Bedeutung zuzumessen. Hätte die Männlichkeit Jesu eine solche Bedeutung, könnten schließlich der Kirche keine Frauen angehören, geschweige denn queere Menschen. Es sei denn, man verfiele in das antike Denken, der Mann sei der vollkommenere Mensch. Genügend biblische Anhaltspunkte allerdings dafür, dass Jesus sich der damals üblichen Männlichkeitsperformanzen verweigert hat, gibt es genug. Die Rezeptionsgeschichte, dies zeigt die Studie Schuberts eindrücklich, ist voll von Interpretationen und Transformationen der Geschlechtlichkeit Jesu. Das nachzuvollziehen, ist überaus spannend. Denn jede Zeit und jeder spirituelle Impuls suchen sich die Anteile Christi, die sie brauchen, um Zeitgenossenschaft des Christlichen herzustellen. So ist es absolut berechtigt, auch heute immer wieder nach Anknüpfungspunkten der Identifikation mit dem universellen Christus zu suchen. Die Leben-Jesu-Forschung hat ihre Grenzen, die die historisch-kritische Exegese aufzeigt. Die Rezeptionsgeschichte der Person Christi ist hingegen endlos, solange zumindest, wie Menschen sich mit diesem Galiläer beschäftigen. Wir werden (hoffentlich) so lange nach Jesus Christus fragen, wie wir uns selbst ein Rätsel sind. Schubert hat einen hervorragenden Betrag dazu geliefert: Christus: männlich, weiblich, divers gedacht.
Dr. Andreas Heek, Leiter der Arbeitsstelle Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz und Koordinator der Bundesarbeitsgemeinschaft für Queerpastoral in den Deutschen Diözesen.
Stichwörter: LSBTI, Kirche und Theologie