Den Tod loslassen
Mein ältester Bruder ruft mich an und sagt: „Papa ist diese Nacht gestorben.“ Diese Nachricht erfüllt mich seltsamerweise nicht mit Trauer. Mein Abschied war vier Monate vorher, als er aufgrund seiner Demenzerkrankung ins Heim musste. Zeit seines Lebens stand er in der Öffentlichkeit, war aktiv, engagierte sich in Kirche und Politik, für seinen Glauben und seine Heimatstadt. In den letzten Jahren musste er immer mehr loslassen, was sein Leben geprägt und bestimmt hat. Und ich musste mein „Vater-Bild“ loslassen.
Das war „mein Abschiedsschmerz“.
Mein Vater war ein durch und durch gläubiger Mann. Das hat mir geholfen, Abschied zu nehmen. Loslassen vom Tod. Umwenden und ins Leben schauen. Das ist die Ostererfahrung, die wir heute als Christen feiern.
Mich fasziniert immer wieder die Szene der weinenden Maria Magdalena am Grab Jesu.
Sie sucht nach der Katastrophe der Kreuzigung einen Ort der Trauer, einen Ort der Nähe und einen Ort der Vergewisserung. Doch das geöffnete und leere Grab lässt sie verunsichert zurück. Gedankenchaos. Gefühlschaos. Wut. Verlustschmerz. Ihr Blick ist auf das Grab gerichtet. Sie sucht, den Tod zu verstehen. Ihr Blick ist gerichtet ins Grab und damit ist sie gefangen in der Dunkelheit. Jemand spricht sie an. Sich umwenden, herausgeholt werden aus den düsteren Gedanken und Gefühlen, aus dem Selbstmitleid und der Todessehnsucht. Den Tod und den Toten loslassen und sich dem Leben zuwenden.
Maria Magdalena lässt sich auf eine Begegnung mit dem Fremden ein. Sie wendet sich dem Unbekannten zu. Aber sie kann den Toten noch nicht loslassen. Sie möchte ihn zurückholen. Das Ungreifbare begreifen können. Eine vertraute Stimme spricht sie mit ihrem Namen an, holt sie aus dem Abschied in die Begegnung, aus der Vergangenheit in die Zukunft. Sie findet zurück ins Leben, ins Licht. Den Tod und den Toten loslassen, um frei für das Leben zu werden.
Mir hat diese Szene schon oft geholfen, die Trauer und die dunklen Gedanken in mir loszulassen. Mich ansprechen lassen von den Menschen, die mit mir ins Leben gehen wollen, die mir einen Weg (zurück) ins Leben weisen wollen.
Deshalb gibt mir Ostern den Auftrag mit:
Welchen Tod muss ich hinter mir lassen, um das Licht des Lebens neu zu entdecken?
Welche Begegnungen führen mich ins Leben, in die Freude, ins Licht?
In der Fastenzeit haben wir uns inspirieren lassen, loszulassen. Das letzte, was wir loslassen, ist unser Leben. Deshalb ist Ostern das Fest, an dem wir feiern, dass wir loslassen, um frei und offen zu sein für das neue Leben. Diese beglückende Erfahrung wünsche ich Ihnen an diesem Osterfest.
Andreas Matthäi, Männerseelsorger in der Diözese Fulda