Wolfgang Bergmann, Kleine Jungs – große Not. Wie wir ihnen Halt geben. Walter/Patmos Verlag, Düsseldorf/Zürich 2005. ISBN 3-530-40173-0. 179 Seiten, € 14,90.
Es gibt Bücher, die man nach dem ersten Lesen zur Seite legt. Andere bleiben auf dem Schreibtisch liegen. Man schaut wieder und wieder hinein. Vielleicht, weil sie einen Bezug zur eigenen Lebenssituation herstellen. Oder weil sie so treffend eigene Wahrnehmungen und Erfahrungen widerspiegeln. Oder weil sie eine punktgenaue Zeitansage enthalten, ein Stück gesellschaftliche Wirklichkeit aufdecken, etwas sagen, was endlich gesagt werden muss. Das vorliegende Buch – so vermute ich – wird bei so manchen seiner Leserinnen und Leser nach der ersten Lektüre deshalb nicht zur Seite gelegt werden. Bei mir zumindest war es so.
Wolfgang Bergmann ist Kinder- und Familienpsychologe mit eigener Praxis in Hannover. Und so erzählt er aus seiner Praxis. Er erzählt von Jungs wie Max, Paul und Fritz, die als Klienten zu ihm kommen mit der Modediagnose ADS. Nervös, unkonzentriert und depressiv-ängstlich, nicht selten aggressiv. Er erzählt von ihren Bezugspersonen, von Hilfe suchenden, überforderten Eltern, von ratlosen und genervten Lehrerinnen und Lehrern, von pädagogischen und psychologischen Fachkräften, die um Rat gebeten werden und eigentlich nicht mehr weiterwissen. Er erzählt von bürokratischen Apparaten, die in ihrer Regulierungswut an den Bedürfnislagen der Jungs vorbeiplanen und vorbeientscheiden, und von der Welt der digitalen Bilder und Klänge, die diese Jungs prägen. Manches stimmt traurig, anderes macht zornig. Und immer wieder der Eindruck: Max, Paul und Fritz sind keine Einzelfälle. Wer mit Eltern spricht, mit Lehrerinnen und Lehrern, erfährt sehr schnell, dass es viele solcher Jungs gibt. „Kleine Jungs – große Not“: Der Titel bringt es auf den Punkt.
„Wie wir ihnen Halt geben“ lautet der Untertitel. Das ist die andere Seite. Bergmann bleibt nicht beim Beschreiben stehen. Dabei ist das Buch alles andere als ein besserwisserischer Ratgeber mit fertigen pädagogischen Rezepten. So fragt der Autor zunächst, warum die Jungs so sind, wie sie sind, und warum sie dabei in vielem auffälliger sind als Mädchen. Seine sicherlich diskussionswürdige Grundthese lautet: „Eine Zivilisation des Misstrauens reift heran, in ihr wächst eine dissozial eingestellte Kindergeneration.“ (S. 177) Ein Bündel von Faktoren trägt nach Bergmann dazu dabei, dass Jungs diese dissoziale Grundstimmung auffälliger ausagieren als Mädchen: fehlende männliche Vorbilder, Übermutterung, Bindungslosigkeit, der Einfluss der neuen Medien, insbesondere von Computer und Internet, die schulische Wirklichkeit (vgl. die scharfe Attacke gegen die bürokratisierte Schule S. 165-168). Wie aber kann diesen Jungs auf ihrem schwierigen Weg zum Erwachsenwerden eigentlich geholfen werden? Nicht durch Institutionen, sagt Bergmann kategorisch, sondern allein durch erwachsene Bezugspersonen. Ihnen gibt er drei Ratschläge für die Erziehung mit auf den Weg: „Stark machen, Halt geben, Mitgefühl zeigen“ (S. 133). Und so ist Bergmann überzeugt: „Nie zuvor kam es so sehr auf den Einzelnen an, den Lehrer hier, den Sozialarbeiter dort, vor allem auf gute Eltern.“ (S. 177) Wer würde ihm da eigentlich widersprechen?
„Kleine Jungs – große Not“ hat es verdient, aufmerksam gelesen zu werden. Welche Leserinnen und Leser sich Bergmann selber wünscht, sagt er ausdrücklich: die Eltern einerseits und die pädagogischen „Profis“ andererseits (S. 10). Mit seinen Beobachtungen und Einschätzungen besonders zur schulischen Wirklichkeit in unserem Land wird er sich dabei nicht nur Freunde machen. Insofern ist es natürlich auch ein sicherlich diskussionswürdiges Buch, das er vorlegt, auf jeden Fall eines der spannendsten und anregendsten Bücher, die ich in der letzten Zeit zum Thema Jungen gelesen habe.
Andreas Ruffing