Frédéric Martel, Sodom, Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan, Frankfurt a.M. 2019
Es gebe keine „homosexuelle Lobby“ im Vatikan. Soweit die gute Nachricht. Er wolle nicht einzelne homophile Kardinäle und Prälaten outen, nein, er wolle den Vatikan als solchen outen als einen grundlegend homophilen Ort. Dies ist die schon etwas beunruhigende Hypothese des Buchautors und Journalisten Frédéric Martel und seines Buches „Sodom“. Im Vatikan gebe es mehr homosexuell als heterosexuell orientierte Männer, die aber ihre Identität keinesfalls offenlegten. Im Gegenteil: die nicht geouteten homophilen Männer würden am lautesten und oft bis hin ins Groteske reichender Weise gegen homosexuelle Menschen und ihrer Partnerschaften agitieren. So sei ein wichtiges „Naturgesetz“ im Vatikan: je homophober ein Prälat oder Kardinal nach außen agiere, desto homophiler die Person selbst. Dieses ist nur eines der grundlegenden Widersprüche im Vatikan, die das Buch offenlegt und die verstörend sind. Es ergeben sich daraus allerdings viele Schlussfolgerungen zum Verständnis dafür, warum sich in Fragen homosexueller Partnerschaften die Lehre der katholischen Kirche nicht ändert. Würde die Frage der Homosexualität insgesamt enttabuisiert, gäbe es keinen Grund mehr für Kleriker, ihre eigene Homosexualität zu verheimlichen. Deren Identität ist aber sosehr mit der Verheimlichung dieser höchstpersönlichen Tatsache eigener homosexueller Neigung verknüpft, dass deren Offenlegung vermutlich zu größeren, auch persönlichen Krisen führen würde, so die Analyse Martels. Außerdem würde dann innerhalb des Vatikans ein wesentliches Instrument gegen unliebsame Mitbrüder, nämlich das Kompromittierungs- und Erpressungspotential, aber auch das Karrierepotential zu fördernder Kleriker nicht mehr funktionieren, das ein wesentliches Merkmal eines zynischen Zusammengehörigkeitsgefühls ausmache, das mehr zusammenzwingt, als wirkliche christliche Gemeinschaft von Priestern zu sein. Zynisch würde der Code „Gemeinde“ benutzt, um hinter vorgehaltener Hand den einen oder anderen zur „Gemeinschaft“ der Homosexuellen dazuzuzählen. Die Lektüre des Buches legt nahe, das Heterosexuelle sehr einsame Menschen im Vatikan zu sein scheinen. Wobei die Tragik der „Gemeinde“ wohl auch ist, dass auch jedes „Mitglied“ für sich sehr einsam ist, sich also in den wenigsten Fällen wirklich mit anderen „Gleichgesinnten“ austauschen kann, weil jeder angreifbar wird durch ein wie auch immer geartetes Outing. Darüber hinaus führt jeder homosexuell orientierter und aktiver Kleriker ein sehr riskantes Leben. Psychische Gesundheit fördert dies sicher nicht. Eine Loge gibt es nicht – wie gesagt –, es scheint aber viel schlimmer zu sein: Homosexualität hat System und ist systemrelevant, so Martels Schlussfolgerungen.
Das Buch liest sich wie ein Krimi: spannend, und mit jedem neuen Kapitel tut sich eine neue Überraschung auf. Es ist hervorragend geschrieben. Aber ist es auch wahr? Anders als der „Erfahrungsbericht“ von David Berger („Der heilige Schein“) ist dieses Buch nicht als Rachefeldzug eines geouteten homosexuellen Theologen im Vatikan angelegt, das mehr Gerüchte ohne Beweise verbreitet und somit dieselbe Art der „Kommunikation“ betreibt wie offenbar viele Angehörige des Vatikans selbst, basiert dieses Buch auf intensiver Recherche eines Außenstehenden. Nicht immer legt der Autor seine Quellen offen, die Beweiskette ist also nicht lückenlos. Er tut dies meist aufgrund von Menschenfreundlichkeit und Anstand und legt dies offen. Doch der Leser kann wohl darauf vertrauen, dass nach 1500 Gesprächen mit unterschiedlichsten Menschen aus aller Welt journalistische Standards eingehalten wurden. Sollte von dem, was auf 660 Seiten ausgebreitet wird, auch nicht alles hundertprozentig stimmen, bleiben dennoch genug Fakten, um eine Reihe internationaler Skandale zu erklären, in der die Diplomatie der katholischen Kirche unrühmlichen Einfluss hatte. Auch dies wird genauestens untersucht.
Dass Homosexualität bis hinein ins letzte Priesterseminar in Deutschland als Machtmittel missbraucht wird, eben weil diese nicht offenbar werden darf, aber jeder von jedem (etwas) „weiß“, das ist der innerkirchliche Skandal, der alle Christinnen und Christen angeht. Tragisch ist dies für jeden (angehenden) Priester, für LSBIT*-Christen in Deutschland ist dies aber empörend. Die Aberkennung ihrer Würde als beziehungsfähige Menschen, die ihre Partnerschaft oft auch unter den Segen Gottes stellen wollen, hängt nämlich ganz unmittelbar mit der tabuisierten und gleichzeitig verfemten eigenen Homosexualität eines großen Teils von Klerikern zusammen, die darüber befinden, was moralisch gut oder schlecht ist, selbst aber oftmals keine ihrer moralischen Prinzipien selbst verwirklichen.
Wer verstehen will, wie die Dynamik verfemter Homosexualität in der katholischen Kirche greift, sollte dieses Buch unbedingt lesen. Es verurteilt dabei keinen einzigen homosexuellen Prälaten im Vatikan oder sonst wo auf der Welt. Aber es erhellt die Dramatik eines „closed shops“, in dem nicht nur heterosexuelle Priester in der Minderheit zu sein scheinen, in der schon gar nicht Frauen vorkommen, außer als Ordensfrauen, die den Klerikern den Haushalt machen, sonst aber eine eher frauenfeindliche Atmosphäre herrscht. Das ist ein neues Kapitel, das der Untersuchung noch harrt.
Dr. Andreas Heek