Walter Kohl, Leben oder gelebt werden. Schritte auf dem Weg zur Versöhnung. Integral Verlag, München 2011. ISBN: 978-3-7787-9204-9. 272 Seiten.
Autobiographien sind eine Gattung für sich: Die einen stellen sich in die Ecke der Opfer, die anderen stellen sich in einem grellen blendenden Licht dar. Beim „Sohn vom Kohl“ – diese Definition musste der Autor über viele Jahre hinweg erdulden – ist das anders. Um wen es geht? Walter Kohl, Jahrgang 1963, ist der ältere der zwei Söhne von Hannelore und Helmut Kohl. Authentisch und sehr persönlich erzählt er von seinem „Schicksal“ als Kanzlersohn. Aufgewachsen mit den andauernden Hänseleien und der ungerechten Behandlung seiner Mitschüler und Lehrer (aufgrund seines Politiker-Vaters), und der ständigen Bewachung und Isolation (aufgrund des Terrors der RAF). Eine Kindheit, die tiefe seelische Verletzungen mit sich brachte und über die er nie wirklich mit seiner Mutter oder seinem Vater reden konnte. Walter Kohl erzählt von den Höhen und Tiefen in seinem Leben: Nach seinem Studium in Harvard fühlt er sich endlich aus der Fremdbestimmung befreit, doch als seine erste Ehe scheitert, seine Mutter Selbstmord begeht und der Vater den Kontakt zu ihm abbricht, ist er am Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Dennoch gelingt es ihm sich neu zu orientieren, seiner inneren Stimme zu folgen und den Weg der Selbstbestimmung einzuschlagen. Auch wenn er an dieser Stelle von Versöhnung spricht – und sicherlich auch die Versöhnung mit seinem nichtanwesenden Vater meint -, so stellt sich dem Leser dennoch die Frage, ob er wirklich seinen Frieden geschlossen hat. „Leben oder gelebt werden“ ist ein Buch, das mit Kritiken von „Absolut enttäuschend“, über „Mein Gott, Walter“, bis hin zu „Mut zur Selbstbestimmung“ bombardiert wurde und dennoch aufgrund seiner ausstrahlenden Ehrlichkeit absolut lesenswert ist.
Manuel Gall