Kießling, Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche

Kießling, Klaus, Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch in der katholischen Kirche
Echter Verlag, Würzburg 2021

„Die Frage des sexuellen Missbrauchs muss in den Kirchen intensiver als bisher behandelt werden,“ sagte die Präsidentin des Ökumenischen Kirchentags, Bettina Limperg, vor Beginn in einem Fernsehinterview. Nein, das ist keine Frage, möchte man ausrufen, das ist ein Skandal, ein Verbrechen, eine Katastrophe und nichts anderes. Immer noch gibt es dafür innerhalb der Kirche(n) eine verdruckste Sprache, die teils bewusste Verharmlosung ist, oft aber ein (hoffentlich nur) unbewusster Impuls, wegzuschauen, nicht wahrhaben wollen, was Realität in der Kirche, aber auch im „profanen“ Leben ist.

Der Autor des Buches „Geistlicher und sexueller Machtmissbrauch“ hebt sich davon in besonderer Weise ab. Er beschreibt präzise die theologischen, psychologischen und soziologischen Widersprüche, Tabus und Fakten, die in diesem Zusammenhang relevant sind. Auf nur zweiundsechzig Seiten schafft es Klaus Kießling, selbst Diakon, Psychotherapeut, Supervisor, Jesuit und Professor für Religionspädagogik an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt a.M., die wesentlichen Themen zu behandeln und auf den Punkt zu bringen, was die To-Do-Liste der katholischen Kirche ist. Jede Formulierung ist dabei wohl gewählt und abgewogen, und so gelingt es ihm, einen sehr sachlichen und doch von viel therapeutischer Empathie für die Opfer geprägten Text zu schreiben. Der hervorragende und konsistente Aufbau des Textes lässt keines der bekannten Themen aus, die immer noch innerhalb des kirchlichen Diskurses verschwiegen oder wie oben blumig-unbedarft zu einer „Frage“ werden. Kießling scheut z.B. auch nicht vor der Benennung der Tatsache zurück, dass Missbrauch vor allem ein Thema in Familien ist. Es gelingt ihm, dies nicht ablenkend vom Skandal des Missbrauchs durch Kleriker zu benutzen, sondern um Missbrauch zu entdämonisieren, ihn als eine Tatsache der Abgründe menschlicher Empathielosigkeit zu nehmen.

Um zu verdeutlichen, was gemeint ist, wenn sowohl die Themen, als auch deren sprachliche Umsetzung präzise und tabufrei behandelt werden, hier ein Zitat, das an dieser Stelle das prekäre Verhältnis vom Umgang mit „Opfern“ und Tätern zum Inhalt hat: „In meinen Augen ist hier eine praktische Theologie der Stellvertretung gefragt: Wenn ich mich nicht auf die Seite der Opfer stelle, wenn ich sie nicht vertrete, wo und solange sie sich nicht selber vertreten können, wenn ich sie nicht gegenüber den Tätern vertrete, werde ich niemals ahnen können, was deren Tat zum Seelenmord macht. Solidarität entzündet sich bei den Opfern, bei denen, die als Geschädigte und Beschädigte darauf angewiesen sind. Dabei kann die Bezeichnung als Opfer zu einer zweiten Demütigung werden, wie der Anwurf ‚Du Opfer!‘ verrät. Schlage ich mich aber exklusiv auf die Seite der Opfer, bleiben mir meine eigenen Abgründe verborgen. Wenn ich mich von den Tätern gänzlich fernhalte, sie also auch nicht gegenüber einer drohenden Ausstoßung ins Niemandsland vertrete, werde ich nicht begreifen, wie schnell Täter zu Opfern werden – zu Opfern, wenn ihr ganzes Menschsein auf ihre Tat reduziert wird.“ Hier ist sicher das extremste Beispiel gebracht, bei dem Kießling aber in seiner genauen Formulierung den schmalen Grad zwischen Opfer-Solidarität und dem differenzierten Blick auf die Täter schafft. Ein gelungenes Kunststück, das nur gelingt, wenn der Sprecher, die Sprecherin in die erste Person Singular wechselt und nicht das hohe Ross besteigt, von dem her die Welt leicht in Täter und Opfer geschieden werden kann, die eigenen Widersprüche aber leugnet. Genau diese Leugnung führt aber geradewegs in die Welt von Schwarz und Weiß und macht die Opfer-Rhetorik kirchlicher Amtsträger oft so unglaubwürdig und hohl.

Ich habe in der letzten Zeit viel zu der Thematik gelesen, aber bisher nichts gefunden, dass die Themen derart verdichtet auf den Punkt bringt. Die geschädigten Menschen bleiben dabei immer im Fokus der Betrachtung. Gleichzeitig werden die systemischen Baustellen der Kirche keinesfalls außer Acht gelassen. Im Gegenteil: die schonungslose Analyse theologischer und machtpolitischer Hindernisse zu einem wirklich weiterbringenden Umgang mit den Missbrauchsverbrechen könnte als „Gebrauchsanleitung“ auch beim Synodalen Weg Verwendung finden. Dass man dafür nicht mehr als zweiundsechzig Seiten zu lesen braucht, nimmt dem verdrängenden immer wieder zu hörenden Seufzer den Wind aus den Segeln, was man nicht noch alles lesen solle. Hoffentlich wird die Kompetenz des Autors in den Gremien der Diözesen und der Bischofskonferenz genügend abgefragt. Von der Sache und der nötigen persönlichen Empathie des Autors her dürfte dem nichts im Wege stehen.

Dr. Andreas Heek

 

 

 

 

Stichworte: Missbrauch, Kirche und Theologie

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