Martin Grabe, Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama
Francke-Buch, Marburg 2020
Ist es tröstlich, dass die evangelischen Schwesternkirchen auch mit Homosexualität immer noch teilweise fremdeln? Oder ist es beneidenswert, dass mittlerweile in allen evangelischen Landeskirchen möglich ist, einen Ehe-Segen in einem offiziellen Gottesdienst zu bekommen? Beide Fragen mit Ja zu beantworten, hinterlässt bei einem Katholiken ein mulmiges Gefühl. Denn schließlich ist die katholische Kirche in dieser Hinsicht mit sich selbst noch lange nicht im Reinen.
Aber nun zum Buch selbst.
Martin Grabe ist Chefarzt der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatik der Klinik Hohe Mark in Oberursel und engagierter evangelischer Christ. In seinem Büchlein fasst er die derzeitige Stimmung zu Homosexualität in der evangelischen Kirche zusammen und stellt die ambivalente Haltung von Teilen der evangelischen Kirche neben seinen eigenen klaren positiven Gedanken als evangelischer Christ und Psychotherapeut. Beim Lesen dieser Darstellung ist die frühere ambivalente Einstellung des Autors spürbar, die aber seit langem vollständig überwunden ist. Nun setzt er sich vehement für das Menschenrecht auf Religionsausübung homosexuell begehrender Menschen einsetzt in seiner Kirche ein.
Woher stammt diese Ambivalenz von manchen Christinnen und Christen? Die evangelische stand in früheren Zeiten der Ablehnung homosexueller Menschen der katholischen Kirche in nichts nach. Sicher ist dies begründet in der Berufung auf ähnliche Quellen: das Naturrecht aus der griechischen Tradition und die Bibel, in der Homosexualität angeblich eindeutig verurteilt würde (was längst exegetisch widerlegt ist, in beiden Theologie-Schulen). Vielleicht gibt es eine relativ einfache, psychologische Antwort auf diese Frage. Grabe berichtet, dass Klassenkameraden in seiner Jugendzeit ihn mit „sexuellen Themen“ in Verlegenheit bringen konnten, was er seiner eigenen Suchbewegung nach sexueller Identität zuschrieb. Möglicherweise ist der tiefste Grund für die immer noch in kirchlichen Kreisen verbreitete Homophobie die ambivalente Haltung gegenüber der sexuellen Identität derer zu suchen, die Hass und Ablehnung gegenüber homosexuellen Menschen verbreiten?
Genauer betrachtet ist es in der evangelischen Kirche nicht anders als in der katholischen: eine überwiegende Mehrheit der Kirchenmitglieder steht homosexuellen Menschen freundlich gegenüber. Noch empathischer wird dann ihre Haltung, wenn eigene Verwandte und Freunde sich als homo- bi- trans- oder intersexuell outen. Es sind oftmals die „Hüter“ biblizistischer Interpretation der Bibel (evangelisch) und die „Wächter“ über die „authentische“ Lehre (katholisch), die sich auf der Spur der „Wahrheit“ wähnen. Es handelt sich vielmals um diejenigen, die die Begegnung mit homosexuellen Menschen eher scheuen, einer grundsätzlichen Idee der Komplementarität der Geschlechter anhängen und das Chaos der Schöpfung, aus dem je etwas Neues und Großartiges entsteht, einfach nicht anerkennen können.
Die Ordnung der Welt nach den Maßstäben menschlicher „Logik“ gibt es schlicht nicht. Dieses Bedürfnis nach Ordnung und nach gedanklichen Konstrukten ist dem menschlichen Geist inhärent, aber findet in der Schöpfung Gottes keine Entsprechung. Die Anerkennung dieser Inkongruenz zwischen der Schöpfung selbst und den eigenen Wünschen wäre eine große Leistung der christlichen Religion. Die evangelischen Schwestern und Brüder tun sich damit mitunter auch noch schwer, aber sie sind den katholischen mindestens einen Schritt voraus. Eine vollständige Auflösung der Ambivalenz ist wohl weder dort noch hier in nächster Zeit nicht zu erwarten. Aber die Entwicklung in der Schwersternkirche kann Mut machen, auch in der katholischen Kirche für weitere Schritte der Anerkennung homosexueller Frauen und Männer und anderer geschlechtlicher Identitäten einzutreten.
Der evangelische Bruder Martin Grabe hat dazu mit seinem wichtigen Buch seinen Beitrag geleistet.
Dr. Andreas Heek
Stichwörter: Glaube, LSBTI