Auferstanden: Ein anderer werden – der gleiche bleiben – mir selbst ähnlicher werden.
Erst letzten Monat kam es zu einer Situation, die mich im Nachhinein schmunzeln lässt. Ich bin zufällig einem Kurskollegen aus der Zeit des Theologiestudiums über den Weg gelaufen, dem ich in den seither gut 15 Jahren nicht mehr begegnet bin. Ich habe mich gefreut, ihn zu treffen. Auf seiner Seite jedoch herrschte zunächst große Ratlosigkeit. Der Blick auf mein Namensschild half ihm auch nur bedingt weiter. Doch dann kam ihm – oder mir? – der Tratsch zu Hilfe. Er erinnerte sich vermutlich an das, was ihm zu Ohren gekommen ist, irgendwann, von irgendwem, der gehört hatte, dass…, von jemandem, der… Und so ist bei ihm der Groschen gefallen und wir redeten und lachten über alte Zeiten. Trotzdem, das Erkennen, Zusammenhänge Herstellen und Begreifen hat seine Zeit gebraucht. In seinen Augen bin ich ein anderer geworden.
Ich schwenke gut 15 Jahre zurück in den Sommer 2003, nur ein halbes Jahr nach Beendigung des Studiums. Ich war beruflich gerade dabei, an meiner ersten Stelle anzukommen. In dieser Zeit wurde mir bewusst, dass ich nicht länger verdrängen konnte und wollte, dass mein Leben so nicht mehr weiter geht, dass ich mir nicht länger etwas vormachen kann. Dass ich immer tiefer in eine Sackgasse laufe, wenn ich weiterhin versuche, als Frau zu leben, nur weil mir bei meiner Geburt – biologisch korrekt – das weibliche Geschlecht zugeschrieben worden ist. Mir wurde klar, dass es kein Scheitern ist, mich mit dieser Geschlechtszuschreibung nicht identifizieren, diese Rolle nicht ausfüllen zu können, sondern dass ein Scheitern darin bestünde, einfach so weiter zu machen, obwohl es mir mit jedem Tag unerträglicher wurde, als Frau gesehen und angesprochen zu werden, in diesem mir fremden Körper zu leben. Es tauchte in mir die Ahnung auf, dass es einen Ausweg gäbe, einen Weg, der mich ins Leben führt: nämlich mein Erleben, mein Fühlen, mein Selbstbild, das ich seit frühester Kindheit in mir trage, ernst zu nehmen und als Mann zu leben; unter Zuhilfenahme medizinischer und juristischer Möglichkeiten. Natürlich war das mit Ängsten verbunden. Angst, alles zu verlieren: meinen Job, meine Freund*innen, meine Familie. Und darüber hinaus erinnere ich mich – gerade zu Beginn der Hormontherapie – gut an die Angst, mir selber fremd zu werden; eines Morgens in den Spiegel zu schauen und mich selbst nicht mehr zu erkennen. Doch musste ich den Sprung wagen. Und mit der Zeit zeigte sich, dass diese Ängste in meinem Fall unbegründet waren. Mein Chef stand zu mir, Freund*innen waren erleichtert, weil sie meine Entlastung spürten und merkten, dass ich der gleiche bin nur authentischer und freier. Auch für meine Eltern überwog der Wunsch, mich glücklich zu sehen. Und meine eigene anfängliche Sorge, es könne alles zu schnell gehen und ich mir fremd werden, die Entscheidung könne sich als falsch erweisen, wich der Ungeduld, weil es nicht schnell genug ging. Und außerdem wurde ich – aus meiner Sicht – tatsächlich kein anderer. Ich blieb der gleiche und wurde zugleich mir selbst immer ähnlicher. Eine Auferstehungserfahrung. Ich habe zurückgelassen, was mich gefangen hielt, was mir fremd an mir selber war, wo ich mich „falsch“ fühlte, starr und tot. Auferstanden bin ich hinein in mein Leben, nun lebendig und wahrhaftig, innerlich frei und stimmig, ein Leben, das Weite und Zukunft verhieß. Natürlich war das für mein Umfeld bei allem Positiven eine Herausforderung, musste es doch Bilder von mir zurücklassen, durfte mich nicht festhalten in einer alten Rolle. „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden“ heißt es bei Lukas.
Wie tröstlich kommen mir die Auferstehungsberichte der Evangelien entgegen. Immer wieder musste der Auferstandene seinen engsten Freunden erscheinen bis sie glauben konnten. Immer wieder wurde er nicht erkannt, weil sie den alten Jesus gesucht haben, doch dem auferstandenen Christus begegnet sind. Es dauerte bis es wirklich Ostern wurde in den Herzen. Es geht nicht von heute auf morgen. Damals nicht und in den Auferstehungserfahrungen mitten im Leben des Heute auch nicht. Es braucht Zeit und beharrlich kleine Schritte. Und natürlich sind auch an Ostern die Wunden des Karfreitags noch sichtbar und spürbar. Gott sei Dank. Denn Jesus erscheint als der Auferstandene – nicht als der Unversehrte. Er trägt sichtbar die Wundmale am Leib, sie werden sogar zum Zeichen des Erkennens, Zeichen der Identität und Kontinuität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten. Auch für mich gibt es heute noch Momente des Schmerzes:
- Wenn ich Menschen aus meinem „früheren Leben“ treffe, die nichts von meiner Entwicklung wissen, und sie mir wie einem Fremden begegnen. Und wenn dies so bleibt, weil es der Situation nicht angemessen wäre, mich zu erkennen zu geben und damit mich in den Vordergrund zu schieben.
- Diesen Impuls halbanonym zu schreiben. Doch lasse ich mich auf diesen Kompromiss ein, damit meine persönliche Geschichte nicht meine Rolle und Aufgabe an meiner neuen Stelle, meiner ersten überhaupt im kirchlichen Dienst – dass dies in aller Offenheit möglich ist, empfinde ich ebenfalls als österlich – überlagert und mir damit möglicherweise mein Ankommen und meinem Gegenüber eine Begegnung erschwert.
- Die Differenz, die ich anderen Männern gegenüber auch heute oft noch empfinde, weil ich die innere Selbstverständlichkeit einer unhinterfragten Geschlechtsidentität nicht kenne.
- Und sichtbar sind da die Narben, die die geschlechtsangleichenden Operationen an meinem Körper hinterlassen haben. Doch ich mag diese Narben. Denn sie stehen für mich nicht in erster Linie für die langen Wochen in Krankenhäusern und die leidvollen Zeiten davor, sondern sie helfen mir tagtäglich, nicht zu vergessen und nicht zu verleugnen, wer ich bin und welchen Weg ich gegangen bin. Manchmal ist es eben nicht möglich, unversehrt zu bleiben, wenn man heil werden möchte.
Heute kann ich sagen: ich bin gerne der, der ich bin, mit allem, was zu mir gehört. Und ich profitiere von meinem Weg, der mich viel gelehrt hat. Auch beruflich. Diese österliche Erfahrung in meinem eigenen Leben ist Motivation und – neben aller Ausbildung – unausgesprochene Grundlage meiner Arbeit in der Geistlichen Begleitung und Exerzitienbegleitung: mit Menschen – durch Krisen, dunkle Zeiten und Tode hindurch – unterwegs zu sein zu Erfahrungen von Auferstehung mitten im Leben. Menschen zu ermutigen, sie selbst zu sein und immer mehr zu werden, sich auf die Suche zu machen nach dem ignatianischen „Magis“ im eigenen Leben. Auf der Suche zu bleiben nach einem „Mehr“ an innerer Freiheit und Wahrhaftigkeit, Lebendigkeit, Gottvertrauen und Zuversicht. Der Spur zu folgen, wie Liebe zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zu Gott gelebt und fruchtbar werden kann. Und darin Nachfolge konkret werden zu lassen. Wunden und Tode nicht zu leugnen, sondern sie von Gott verwandeln zu lassen, um unter Seinem Segen ins Leben zu gehen. Auferstanden. Ein anderer geworden – der gleiche geblieben – sich selbst ähnlicher geworden.
Lk 24,1-12
J.W.