Jana Fritsche, Über die Unwahrscheinlichkeit der Männlichkeitsforschung – Genealogie eines Forschungsfeldes, Springer Fachmedien 2024
Wie in unterschiedlichen Kontexten über Männlichkeit reflektiert und diese in Verbindung mit gesellschaftlichen Verhältnissen sowie sozialen Folgen diskutiert wird ist nicht selbstverständlich. Männer sind bis weit ins 20. Jahrhundert als das ‚allgemein-menschliche‘ Subjekt betrachtet worden. Spezifisch männliche Lebenslagen konnten so als Untersuchungsgegenstände gar nicht erst in den Blick rücken. Wenn Mann und Mensch stets gleichgesetzt wurden, wie kommt es dann zu der Erkenntnis von ‚Männlichkeit‘ als einem eigenen Forschungsobjekt? Das Forschungsinteresse des vorliegendes Buches gilt nicht ‚Männlichkeit‘, sondern dem Nachdenken über Männlichkeit, und zwar in Form einer Reflexion: der sogenannten Männlichkeitsforschung oder Masculinity Studies. In welcher Gesellschaft Männlichkeitsforschung möglich werden kann, und was gegeben sein muss, damit über ‚Männlichkeit‘ nachgedacht und schließlich geforscht wird.
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird über das Phänomen ‚Männlichkeit‘ geschrieben und publiziert. Und in den 1940er- und 1950er-Jahren lassen sich empirische Studien finden, die spezifisch männliche Lebenslagen in den Blick nehmen. Im Zeitraum ab den 1970er-Jahren werden die Beforschung von Männlichkeit stärker betont. Und zwar in der Richtung, was für Männer in ihrer Beschaffenheit als Männer zu erwarten sei oder erwartet werden kann. Im ganzen Material der frühen Forschung findet sich allerdings keine dezidierte Definition von ‚Männlichkeit‘ als Arbeitsbegriff.
1985 war ein bedeutendes Jahr für die Männlichkeitsforschung. Ein Grund dafür ist, dass sie einen Namen erhält, unter dem die bisherigen Forschungen zu ‚Männlichkeit‘ versammelt werden: Men’s Studies. Die Studie „Der Mann“ ist von der Zeitschrift Brigitte in Auftrag gegeben worden. Als Ausgangspunkt dient das Fazit, die Männer bewegten sich nach wie vor in patriarchalen Strukturen, Emanzipation und Gleichstellung seien noch ein weit entferntes Ziel. Hier wird nun gefragt, was sich in den letzten Jahren geändert hat. Die Berufstätigkeit beider Personen in Paarkonstellationen hatte allerdings kaum Auswirkungen auf die Aufteilung von Care-Tätigkeiten und Hausarbeit, die vorwiegend von Frauen übernommen wurde.

Die gemeinsame Grundlinie der ersten Generation der Men’s Studies bildet die Diagnose des ‚Scheiterns‘, insofern Männlichkeitsentwürfe und ihre gesellschaftliche Umwelt nicht mehr passgenau aufeinander abgestimmt zu sein scheinen. Die leitenden Narrative ab den 1980er-Jahren stellen ab auf 1) die Anerkennung der gleichzeitig unterschiedlichen Männlichkeiten und auf deren Relationen untereinander und 2) die Figur hegemonialer Männlichkeit wird zum Dreh- und Angelpunkt der Konstruktion und Darstellung dieser verschiedenen Männlichkeiten. Die vermutlich hervorstechendste Modifikation der Konzeption von ‚Männlichkeit‘ ist deren Pluralisierung durch die inhaltliche wie terminologische Umstellung auf ‚Männlichkeiten‘ bzw. ‚Masculinities. Nicht mehr ‚Gesellschaft‘ als Ganzes stelle ein Muster von Männlichkeit bereit, sondern Männlichkeit bilde sich je spezifisch in unterschiedlichen lokalen, regionalen wie globalen Kontexten aus. Männlichkeiten entstehen in und durch Praktiken und strukturieren diese Praktiken wiederum. Die Figur der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ bildet das Zentrum und die Kontrastfolie, vor der sich diverse Männlichkeiten – untergeordnet, abgrenzend, annähernd, unterlaufend, herausfordernd – empirisch beobachten und beschreiben lassen. Damit löst man sich von der Vorstellung eines fortlaufenden Prozesses, in dem sich durch erforderliches Tun, den dadurch einstellenden Abweichungen und hervorgebrachten Gleichzeitigkeiten, stetig Verschiebungen und Veränderungen ergeben. Somit ist Männlichkeit nicht mehr ein zeitliches Problem, sondern ein fortlaufender Prozess, der immer nur vorläufig im ‚Hier und Jetzt‘ beschrieben werden kann.
Nun geht es der aktuellen Männlichkeitsforschung nicht vorrangig um die Analyse von verschiedenen Räumen, sondern um die Beschreibung von verschiedenen Männlichkeiten, die durch je eigene Kontexte (lokal, regional, global) und je spezifische Praktiken konstituiert und als solche sichtbar werden und damit wiederum eigene Praktiken hervorbringen.
Damit stellt die Studie eine systematische Untersuchung des Feldes der Männlichkeitsforschung dar. Für mich eine spannende Reise und für alle an der Entwicklung der Männlichkeitsforschung Interessierten.
Jürgen Döllmann
Stichworte: Männer Heute, Männlichkeit