Ströbele, Gharaibeh, Middelbeck-Varwick, Dziri (Hg.), Migration, Flucht, Vertreibung

Ströbele, Christian, Gharaibeh, Mohammad, Middelbeck-Varwick, Anja, Dziri, Amir (Hg.), Migration, Flucht, Vertreibung. Orte islamischer und christlicher Theologie
Verlag Pustet (Regensburg) 2018

“Wir sind nur Gast auf Erden“, so lautet die erste Zeile eines bekannten Kirchenliedes von Georg Thurmair. Diese schlichte Aussage über den Menschen kann auch der theologische Leitgedanke sein, wenn es in der gesellschaftlichen Kontroverse um Migration, Flucht und Vertreibung darum geht, ob und inwieweit Menschen, die ihre angestammte Heimat verlassen (müssen), im aufnehmenden Land willkommen geheißen werden können. Wenn Menschen sich grundsätzlich als Gäste auf dieser Erde verstünden, so hätte dies zur Folge, dass sie andere, ihnen zunächst fremde Menschen auch als Gäste freundlich behandeln.

Damit ist auch schon der zentrale Angelpunkt des zu besprechenden Buches benannt. Die Beiträge dieses Bandes suchen nach den Grundlagen, auf denen eine theologische Betrachtungsweise von Migration beruhen kann. Er stellt die instruktive Frage, ob Migration, Flucht und Vertreibung „theologiegenerative Orte“ darstellen. So stellt Regina Pollak in ihrem Beitrag heraus, dass der aktuelle Beitrag christlicher Theologie darin besteht, dass Migration als ein „Zeichen der Zeit“ erkannt werden kann, das der göttlichen Verheißung einer gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen an den gemeinsamen Gütern der Erde ein Stück mehr Wirklichkeitsnähe bescheren könnte, wenn sich die Menschen reicher Länder bereit erklärten, leidende, verfolgte und versehrte Menschen zeitweise oder auch ganz aufzunehmen. Jürgen Ebach stützt die These Pollaks mit seiner bibeltheologischen Analyse, dass die biblischen Zeugnisse durchzogen sind von Flucht, Vertreibung und Migration. Viele theologische Topoi hätten ihren Ursprung in der krisenhaften Erfahrung eines „Neu-anfangen-Müssens“ im Exil, auf der Flucht und bei und nach Vertreibung. Ja, die Entwicklung des monotheistischen Gottesbildes wäre ohne diese Erfahrungen gar nicht möglich gewesen.

Auch die islamische Tradition ist durchzogen von Erfahrungen von Flucht und Migration. Der Prophet Muhammad selbst musste von seiner angestammten Heimat nach Medina fliehen. Und da sei es wohl kein Zufall, so der islamische Theologe Abdullah Takım in seinem Beitrag. dass die koranische Theologie das „Fliehen zu Gott“ als Grundlage der innigen Gottesbeziehung zum wichtigsten Inhalt habe. Der Mensch befinde sich auf einer Reise, und diese Welt sei ein Durchgangs- und Prüfungsort, um sich zu verwirklichen. Auch hier: ohne tiefgreifende Krise, kein tiefsinniges Gottesbild.

In dem überaus vielfältigen und tiefbohrenden Band, der eine Dokumentation der 13. Tagung des „Theologischen Forums Christentum-Islam 2017“ darstellt, wird nicht nur die Frage reflektiert, dass Migration die Menschen verändert, die kommen, sondern auch die, die schon da sind. Es wird darüber hinaus festgestellt, dass sich die Religionsgemeinschaften, die über Jahrhunderte hinweg mehr oder weniger (sehr oft zu viel weniger!) friedlich nebeneinander her gelebt hätten, jetzt vor der immensen Herausforderung stehen, aus einem Alleinvertretungsanspruch für das Göttliche in dieser Welt einen subjektiven Wahrheitsanspruch machen, bei dem es vor allem um die Bewährung des eigenen Glaubens im persönlichen Leben geht. Zwar hat auf katholischer Seite das 2. Vatikanische Konzil dafür die Grundlage gelegt, aber in der Lebenspraxis von Christen (und vielleicht auch von Muslimen?) ist die Erfahrung der Pluralität von Glaubenswahrheiten (sic: im Plural!) immer noch eher fremd.

Andererseits warnt beispielsweise der Religionswissenschaftler Martin Baumann in seinem Artikel davor, Religion im Kontext von Migration nicht zu überschätzen. Schließlich seien auch Menschen islamischen Glaubens von Säkularisierung- und Individualisierungsprozessen ebenso „betroffen“ wie Menschen mit christlichen Wurzeln. Dieser Hinweis fokussiert auch darauf, dass nicht nur religiöse Unterschiede zu möglichen Konflikten innerhalb der Gesellschaft führen, sondern auch (und vor allem?) die Fremdheit der Kulturen, die miteinander in Kontakt kommen. Diese Fremdheit, so fordern viele Autoren des Bandes, könne nur durch Dialog, Toleranz und Neugier überwunden werden.

Elisabeth Zissler, katholische Sozialethikerin aus Wien, sucht nach den grundlegend gemeinsamen Werten der Religionen im Zusammenhang mit Migration. Sie findet die Konzepte von Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Vulnerabilität als gemeinsame Koordinaten in diesem Diskurs.

Wenn Menschen sich grundlegend bescheiden, um nicht zu sagen demütig als „Gäste auf Erden“ sehen können, ist es ihnen dann auch leichter möglich, den Anderen, die Andere als ebenso verletzliche „Fremdlinge“ zu betrachten und nichts auf dieser Erde wirklich als Besitz. Daraus könnte theologisch folgen, dass das grundlegende Bewusstsein von Gastsein Gastfreundschaft hervorriefe. Ob wir in Kirche und anderen Religionsgemeinschaften wirklich schon so weit sind? Dies wäre selbstkritisch zu prüfen.

Resumee: Ein nachdenklich machendes Buch, ein mutmachendes Buch, ein spannendes Buch, das neue Denkweisen ermöglicht und auch die katholische Kirche aus der reinen Selbstbespiegelung herausholen kann, wenn sie sich – wie Abraham – rufen lässt in ein unbekanntes Land.

Dr. Andreas Heek

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