Fastenimpulse 2021 – 2. Fastensonntag

Liebe – nicht Gewohnheit

Wie ambivalent kann Liebe sein? Was tun alles wir für unsere „Liebsten“? Was ist „Liebe“ überhaupt? Ein Gefühl? Eine Verpflichtung? Eine Gewohnheit? Rolf – seit 3 Jahren im Ruhestand – gibt sich Rechenschaft. Da ist seine Ehefrau, die noch arbeitet; seine 84-jährige Mutter mit Liebeskummer in Corona-Zeiten; seine Tochter und sein Enkel, der ihn fordert; eine ältere Bekannte, die unter der Corona-Einsamkeit leidet; da sind die 80-jährigen Eltern der Ehefrau, denen sie immer mit einem Schuldgefühl „zu wenig? tue ich genug?“ begegnet.

Diese Rechenschaft über die eigenen Gefühle gerät etwas länger. Aber so ist das mit nachdenklichen Texten. Doch bitte, selber lesen und sich Zeit nehmen!

Stärker als das geplapperte „ich liebe dich“ ist für Rolf dieses „Spüren von Bauch und Herz, diese Strahlung und Wärme, die einen ergreift, aber auch dieses alles in sich Zusammenziehgefühl, wenn den Lieben Bedrohliches bevorstehen könnte“ und die Frage, nein die Antwort: „how deep is your love“

(Hans Prömper)

 

Liebe

oder how deep is your love

 

Es ist etwa 8 Uhr. Durch den halb geöffneten Rollladen kann ich über dem Dach des Nachbarhauses den Himmel und ein paar hochgewachsene Bäume erkennen; undeutlich, wie weichgezeichnet durch die Nebelschwaden und den leichten Schneefall. Irgendwie trist und doch nicht wirklich unfreundlich.

Der erste wichtige Gedanke gilt heute ausnahmsweise nicht meiner Frau, sondern dem Anliegen an mich, einen Text über die Liebe zu verfassen. Ambivalenz zwischen Verpflichtung und Lust, aber schon mit eindeutiger Tendenz zum „Darauflusthaben“, denn hier muss nichts bewiesen werden und die Gedanken um den Text fließen bestimmt von allein. Ein Wort, das so selbstverständlich und häufig gebraucht wird wie die Liebe und ein Gefühl das unser Leben so bereichert wie die Liebe – kann doch in der Ausformulierung nicht so schwer sein. Hm….

 

Jetzt der Gedanke, der mich ansonsten zuerst ereilt. Liegt Sie neben mir? Nein, heute leider nicht – stimmt, Frühdienst, also gilt es den Tag bis zum frühen Nachmittag selbst zu gestalten, so gut es in dieser Lebensphase, Mitte 60, und in diesen besonderen Zeiten geht.

Ich sage mir fast jeden Tag, dass in den vergangenen drei Jahren nach meinem Berufsleben genug Zeit zum Üben zur Verfügung stand und jetzt der Tag der Zuversichtlichkeit und des Glücklichseins beginnt… mit all dem ausgestattet, was man (bescheidener) immaterieller und materieller Wohlstand nennt. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, wir beide können uns noch riechen und der Kühlschrank ist meistens wohl bestückt.

Also starte ich mit der Absicht direkt in die Laufschuhe zu steigen, mir meine Musik auf die Ohren zu setzen und den Atem und die Natur wirken zu lassen. Es ist ein Ritual, das mir vergönnt ist, weil die Gelenke, Sehnen und Knochen die Belastung noch aushalten. Meine beiden Strecken führen mich entweder in ein schönes Tal, das je nach Tages- und Jahreszeit von mir als reizvoll mystisch und bizarr empfunden wird oder, sofern der Inhalt unseres Brotkastens eher dürftig ist, nicht ganz zufällig ins Ort zu meinem Lieblingsbäcker. Nur ein Dauerregen oder echt widrige Temperaturen halten mich davon ab, Hauptsache raus und fühlen, wie der Organismus in Gang kommt.

Kaum, dass ich die Laufkleidung vom Balkon hereingeholt habe, leicht klamm, daher erst mal kurz auf die Heizung, klingelt das Telefon. Festnetz, das nutzen nur wenige unserer Anrufer. Und dann vor 9?

Sie kennen das flaue Gefühl in der Magengegend, wenn es ein oder mehrere Indikatoren dafür gibt, dass ihr Tag einen ungewollten Verlauf einnehmen könnte? Aber so schlimm kommt es nicht.

Es ist meine Mutter, 84 Jahre jung, alleinlebend im Vogelsberg, aber mit einem netten Lebensgefährten aus der Wetterau liiert. Ich nenne sie Mutsch solange ich zurückdenken kann. Ihre Nummer im Display erkennend und dem Versuch mich auf sie zu konzentrieren, höre ich bereits ihre Stimme und ihr gefühltes Leid. Inzidenz im Vogelsberg über 200, Heri (ihr Freund) darf nicht mehr kommen, über 15 km entfernt wohnend. Ich bin schon seit Monaten nicht mehr erwünscht (liebevoll gemeint), weil meine Frau im Job und ohne Homeoffice und ich, die Enkel weiterhin sehe und überhaupt die Angst obsiegt.

Oh ja, und dieser Liebeskummer, das habe ich zwischenzeitlich gelernt, kann im hohen Alter mindestens so heftig gefühlt werden wie in der Jugend, vermutlich sogar nachhaltiger und tiefer.

Ein kraftraubendes Gespräch mit meiner alten Dame, die immer wieder mit negierenden Argumenten versucht, ihre Situation als doch ziemlich dramatisch darzustellen. Ihr Heri, die Strecke, die Kontrollen und die Straftaten, die er begeht, wenn er seine Liebste besuchen will. Gegen 10 Uhr glaube ich Sie ein wenig beruhigt zu haben.

Und ich denke an den Text über die Liebe und frage mich wie es um mich und Mutsch und die Liebe bestellt ist. Was fühle ich, wenn Sie anruft und erst mal ihre Probleme loswerden will, wenn Sie mir auch mal oberflächlich und ohne Empathie begegnet? Ist das Liebe oder bin ich immer noch der nette Junge, der kontroverse Diskussionen meidet, Konflikte schwer aushält und deswegen zugewandt ist, aus Pflichtgefühl? Hm….

Jetzt sind auch die Klamotten trocken und warm und ich werfe einen letzten Blick auf mein Smartphone.

Eine SMS in WhatsApp-Zeiten einer lieben Freundin, die ich seit meiner Jugend kenne. Ü60, alleinlebend, arbeitslos, psychisch angeschlagen und ohne mannigfaltige soziale Kontakte. Und jene, die sie hatte, mit eher institutionellem Charakter, wie Fitnessstudio, Yogastunde und Tanzclub am Wochenende, sind seit Wochen und Monaten geschlossen. Reden wollen, Stimme hören, ein wenig warmes Verständnis und ein Auftanken von positiver Stimmung, eben etwas, was den leeren Tag erträglicher macht.

Und meiner wird gegen Erwarten immer voller, was ich Sie auch gg. 11 Uhr spüren lasse und beteuere, dass ich mich in den nächsten Tagen melde und Zeit mitbringe.

War ich jetzt froh, als ich loslassen und auflegen konnte, geht es mir durch den Kopf. Reicht meine Geduld nur so lange, wie meine eigenen Angelegenheiten nicht beeinträchtigt werden? Was ist das für eine Beziehung seit über 40 Jahren und handele ich aus freundschaftlicher Liebe oder weil ich nett bin und ein wenig Mitleid habe? Hm……..

Langsam meldet sich mein Magen und knurrt nach zwei Körnerbrötchen mit Butter und irgendwas Fettem. Ja, ich weiß, Selbstsorge sieht anders aus, aber mein sportliches Unterfangen ist eine wunderbare Ausrede dafür, kleinere Sünden ohne schlechtes Gewissen zu begehen. Apropos Sport… Laufsachen habe ich an – sollten aber spätestens nach der heutigen Aktivität in die Wäsche – nur noch die Schuhe fehlen. Und natürlich das Handy für die Musik auf den Ohren.

Oh nein, mein im vierten Monat schwangeres Töchterchen mit einem ge-App-ten  Anliegen, das in etwa diesen Inhalt hat: Hi Paps, wollte nur fragen, ob Du morgen kommen kannst. Wäre schön gg. 14.30, Ciel (3 Jahre alt und mein ältester Enkel) hier abzuholen. Matschhosen und Stiefel sind gepackt – Schlitten oder Laufrad stehen im Keller. HDGDL

Ciel heißt übersetzt Himmel, bitte nicht falsch verstehen, aber wenn er seine gnadenlosen 5 Minuten bekommt, dann wünsche ich mich genau dahin.

Ja, das ist eine feste Regelung, immer Dienstagnachmittag und diese Zeit mit ihm ist meistens intensiv, spaßig, aber auch anstrengend. Er ist ein richtiger Racker, der mich fordert, geistig und körperlich.

Ok, schreibe ich zurück, kein Problem und denke, hoffentlich ist das Wetter einigermaßen, weil richtig anstrengend wird es, wenn er zwischen mir und zwei Erwachsenen im Homeoffice rumtobt und nicht versteht, warum er jetzt nicht zu Papa ins Büro, oder zu Mama mit Schreibtisch im Schlafzimmer, darf. Dann kommt es vor, dass sein Mund größer wird als sein Kopf und die entfleuchten 120 Dezibel die Geräusche eines startenden Jets wie sanftes Gemurmel erscheinen lassen.

Was für ein merkwürdiges Gefühl beschleicht mich jetzt? Dass ich heute aber auch so genau hin spüren muss.

Bianca und ihr Papa, das hat schon was Spezielles. Sie ist die Jüngere, genauer gesagt 7 Jahre liegen zwischen ihr und ihrem Bruder Marco. Während Marco die harten Zeiten der Trennung zwischen seiner Mutter und mir als fast Erwachsener erlebt hat, war Bianca 12 und Sie hat den Beziehungsbruch nicht so leicht verkraftet. Weil die beiden nach der Trennung bei mir geblieben sind, hat uns diese vermeintliche Notsituation, zumindest spüre ich das heute so, noch intensiver zusammengeführt. Zudem war sie eben das Nesthäkchen, ein zierliches Kind und schutzbedürftig.

Und jetzt hat Sie ihre eigene Familie. Und der Opa fühlt wieder und fragt sich, welche Motivation hier zugrunde liegt. Handele ich für meine Tochter und ihren Sohn aus Liebe oder weil ein braver Papa und Opa das eben tut, aus Verantwortungsbewusstsein?

Verdammt, jetzt ist es 20 nach 11 Uhr. Schnell eine halbe Banane reingepfiffen und ab in die Schuhe. Nein, jetzt hat niemand eine Chance mich aufzuhalten. Erst zum Bäcker, dann in den Wald und nach einer halben Stunde Bewegung die Freude auf zwei frische Weck mit Fleischwurst.

Und da fällt es mir wieder ein, der Text in Liebe über Liebe geschrieben. Selbstzweifel überkommen mich, mein Läufchen wird zum Gedankenmarathon und irgendwie will mir keine überzeugende Struktur einfallen, geschweige ein passender Inhalt.

Wieder zu Hause abgelenkt von der Routinearbeit im Haushalt, ihr diese Tätigkeiten nach dem Frühdienst ersparend, meinem späten Frühstück und natürlich Körper- und Kleidungspflege, sind jetzt alle Gedanken auf ihr Heimkommen gerichtet. Einen guten Kaffee bereiten, ein wenig erzählen lassen über die Kolleginnen oder andere Begebenheiten aus dem Klinikalltag. Dann für Sie ein kurzes Nickerchen und anschließend was Gemeinsames erleben? In diesen Zeiten und dieser Jahreszeit bleibt da eigentlich nur ein Spaziergang durch den winterlichen Taunus. Wir kennen fast jeden Stein nach einem Jahr in diesen merkwürdigen Zeiten – egal – auch das bereichert und lässt aufatmen. Und manchmal gesellt sich verbotenerweise noch ein Pärchen hinzu und wir planen, sofern das identifiziert wird, ein ganz zufälliges Treffen vorzutäuschen. Hm……

Sie ist pünktlich zu Hause, nachdenklich und sorgenvoll. Wie gewohnt erst mal ein wenig Entspannung und anschließend einen Kaffee und es ist zu spüren, dass Sie etwas ansprechen muss, etwas Belastendes und vermeintlich (für mich?) Unangenehmes. Nach einem Moment des Nachdenkens, vermutlich darüber, wie Sie das Thema am besten angehen kann, ist es nicht die schwierige gesundheitliche Situation eines Patienten oder die merkwürdig gereizte Stimmung in der Klinik, nein, es geht um ein Sie einholendes Gefühl, eines der Unzulänglichkeit. Ihre gefühlten Defizite Ihre Eltern betreffend.

Beide, weit über 80, aber recht weit weg, alleine in ihrem großen Haus mit noch größerem Grundstück lebend und beide gesundheitlich angeschlagen. Papa nutzt zwar den Stock, die Brille und das Hörgerät – auch wenn sich das winzige Teil immer wieder versteckt – aber die Gelenke sind verbraucht und der Rücken gekrümmt. Mama ist geistig flexibel, aber nach einem harten Sturz musste die Hüfte erneuert werden und seitdem ist der riesige Garten nicht mehr ein Ort des Kümmerns, sondern der Kümmernis. Ähnlich verhält es sich mit der Pflege des großen Hauses und die ganze Familie wirkt mit, das Anwesen nicht verwildern zu lassen. Unglaublich, dass ein Garten (mickrige 2000 qm), genährt von ein wenig Regen, in kürzester Zeit in einen Urwald mutiert. Es scheint, dass aus jeder halb vertrockneten Pflanze eine Liane und jedem Quadratzentimeter unfruchtbarem Boden ein widerspenstiges Unkraut entspringt. Das Gefühl eines arbeitsreichen Wochenendes ist jedenfalls, dass in spätestens einer Woche aus jeder Fuge der ausgekratzten Verlege-Steine (hunderte) und jeder geschnittenen Hecke (dutzende) unzählige Babypflanzen entspringen und den nächsten Besuch bereichern werden.

Dennoch plagt Sie ihr Gefühl, sich zu wenig zu kümmern, alle wichtigen Erledigungen anderen zu überlassen und auch Gespräche nicht oder nicht mehr rechtzeitig führen zu können. Das berührt und betrübt Sie.

„Ich muss meine Eltern besuchen“, das sind ihre Worte und die Häufigkeit, in der Sie diesen Satz in den letzten Monaten sagt, nimmt zu.

„Ja, natürlich, kein Problem“, und unausgesprochen – das wäre ja unsere gemeinsame Zeit gewesen, aber davon haben wir ja noch ganz viel vor uns. Hm

Und sofort ist da wieder diese Reflexion, die mich nach meiner Motivation, meinem Gefühl befragt. Wir sind Patchwork seit 13 Jahren und verheiratet seit 7 Jahren. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, sondern eine Annäherung mit freudigen Erkenntnissen. Erkenntnisse, dass zunehmend mehr passt, übereinstimmt oder sich zusammenfügt. Immer deutlicher das Gefühl von Bereicherung, beidseitig und parallel die Gewissheit, dass man den anderen von Kopf bis Fuß… ja, was… mag, akzeptiert, liebt?

So vergeht der Nachmittag ohne Spaziergang, es ist schon dunkel geworden und der Schneefall hat zugenommen.

Und jetzt wird es höchste Zeit mich um den Text zu kümmern. Liebe, was bedeuten diese Worte für mich? Ich ziehe mich in das Gästezimmer zurück, kann in mich gehen, mich konzentrieren.

Ich habe seit jeher ein Problem mit Worten, für die es keine Steigerung gibt. Mein Gefühl war und ist, dass in dem Wort Liebe so viel maximale Aussage und Endgültigkeit steckt, dass es nicht leichtfertig benutzt werden darf. Es gibt dann keine Entwicklung mehr und überhaupt ist ein täglich dahin geplappertes „Ich liebe Dich“ für mich undenkbar. Ich würde es in seiner Bedeutung missbrauchen.

Ohne nur einen Satz geschrieben zu haben, wird mir klar, dass mein Gefühl zu dem Wort Liebe viel eindeutiger ist als ich hierfür die geeigneten beschreibenden Worte finden kann.

Dieses Spüren von Bauch und Herz, diese Strahlung und Wärme, die einen ergreift, aber auch dieses alles in sich Zusammenziehgefühl, wenn den Lieben Bedrohliches bevorstehen könnte, aber auch die Verstandesregung in der Gewissheit von Vertrauen und Stabilität, das sind meine Indikatoren.

Hören wir also aufmerksam in uns hinein und spüren in die Erlebnisse und Begegnungen des Tages, des Jahres oder des Lebens. Die empfangenen Signale sind eindeutig und wir wissen „How deep is my Love“.

 

Text: Rolf Klinkel

 

 

 

 

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