Haslbeck, Heyder, Leimgruber, Sandherr-Klemp, Erzählen als Widerstand

Haslbeck, Barbara, Heyder, Regina, Leimgruber, Ute & Sandherr-Klemp, Dorothee (Hg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster (Aschendorff) 2020.

 

Die Wahrheit muss ans Licht. Auch wenn dies nicht ins Konzept einer Kirche passt, die sich – zwar immer weniger unverschämt, aber wenn doch, dann mit großem Pathos – als „Alternative“ zum oft verfemten „Zeitgeist“ sieht. Auch wird immer noch eine „Entweltlichung“ gefordert, um das „reine“, das „wahre“ Katholisch sein zu leben.

Das vorliegende Buch hingegen lässt in Abgründe blicken, in Abgründe einer tatsächlich anderen Welt, die keinen Anstand und Menschlichkeit kennt. Schier unsägliche Geschichten von missbrauchten, oftmals vorverletzten Frauen lassen einem den Atem stocken. Ein Beispiel: Ein Pfarrer zeugt mit einer von ihm abhängigen Frau ein Kind, zwingt sie mit Hilfe eines Mitbruders zur Abtreibung und lässt sich vom selben Mitbruder – telefonisch beichtend – für sein Vergehen (Bruch des Zölibates!) lossprechen. Das allein ist schon eine an Zynismus fast nicht mehr zu steigernde Tatsache angesichts der vehementen Ablehnung von Abtreibung durch die katholischen Kirche. Dass beide Priester nach Offenlegung ihrer Vergehen nach einer kurzen „Auszeit“ in ihre Ämter wieder eingesetzt werden, lässt tief blicken. Denn: Es sind systemrelevante Fehler, die dieser Logik zugrunde liegen. Möglicherweise wird hier nach „Recht und Gesetz“ des Kirchenrechts gehandelt bzw. die Ermessensspielräume desselben möglichst weit ausgedehnt. Dem Anspruch des Christentums genügt dies allerdings in keiner Weise.

Nun könnte man einwenden, das seien Einzelfälle. Männer, denen psychische und spirituelle Reife fehle. Das müsse man „aufarbeiten“, und dann sei das Thema erledigt. So einfach ist es aber nicht. Denn so schmerzhaft die Taten für die betroffenen Frauen an sich waren, so nochmals traumatisierend sind ihre Erfahrungen, wenn sie die Vergehen und Verbrechen offenlegen. Zunächst wurden sie von Pontius zu Pilatus geschickt; dort gab es Nichtzuständigkeitserklärungen, und wenn die Zuständigkeit geklärt waren, den Betroffenen geglaubt wurde (was oft nur mühsam geschah) und die Täter gestellt und bestraft wurden, wurden diese zum nächstbesten Zeitpunkt begnadigt bzw. aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit entfernt. „Wer kennt wen“ im Priester-Männer-Netzwerk war – und ist sicher immer noch – dabei eine harte Währung. Viele notorische Täter landeten auch schon einmal in sogenannte „Missionsländer“, in denen ihre soziale Kontrolle noch weniger gelingt, weil sie dort noch mehr durch ihre herausgehobene Position unangreifbar sind. Der Systemfehler ist die Selbstreferenzialität, ohne wirkliche unabhängige Kontrolle durch eine ordentliche Gerichtsbarkeit, mit Staatsanwaltschaft, Ermittlungsbehörde und dergleichen. Der Ortsbischof ist das letztlich alles in einer Person und alle ihm nachgeordneten Entscheider handeln in derselben, abgeleiteten Rollenomnipotenz.

Der Genderaspekt ist bei allem besonders skandalös. Die erschütternden Berichte der Frauen zeugen eindrücklich davon. Das Ausnützen eines einerseits negativen Frauenbildes („die ewig sündige Eva“) und der machohafte Überlegenheitshabitus von traditionell geprägten Männern gegenüber Frauen sind dabei schlimme Entgleisungen, die im Geschlechterdiskurs „toxische Männlichkeit“ genannt wird. Aber auch sie sind systemimmanent, weil im hermetischen Männerbund schon der angehenden Priester Frauen schlicht nicht vorkommen, es sei denn als Köchinnen oder Ordensschwestern im Priesterseminar. Wo lernen angehende Priester unbefangen Frauen kennen, was über die Wertschätzung der eigenen Mutter und Schwester (mit starken Tendenzen zur Idealisierung) hinausgeht?

Aber auch als Mann muss dieses Buch nachdenklich machen. Ausnutzen von Schwäche und besonders relevant der Unterwerfungszwang des „Kleinen“ gegenüber dem „Großen“, also der gesamte Apparat des Missbrauchs von Macht betrifft diese genauso wie Frauen. Und dass Frauen mit Macht auch mitmachen beim Machtmissbrauchen gegenüber den eigenen Geschlechtsgenossinnen zeigt, dass eine zu große, unhinterfragbare Macht das Problem ist. Wer hingegen immer im Kopf hat, dass er/sie systemimmanent implementiert kontrolliert wird, wird vor den eigenen Untiefen eher zurückschrecken, als jemand, der von seinem obersten Dienstherrn von Anfang an lernt, dass dieser allmächtig ist und dass, wenn er sich ihm uneingeschränkt unterwirft, selbst teilhat an dieser Allmacht.

Im zweiten Teil des Buches analysieren fünf spannende Essays, was aus den Berichten von betroffenen Frauen zu lernen ist (Heyder & Leimgruber), welche psychotaumatologische und systemische Einsichten diese ergeben (Haslbeck), in welcher Beziehung Vulnerabiltität, Vulneranz und kreativer Widerstand miteinander stehen (Keul), welche Rolle die Heilige Schrift bei Missbrauch spielt (König), wie das Buchprojektes selbst zustandekam (Sandherr-Klemp) und welche Hinweise für Gespräche mit Betroffenen relevant sind (Haslbeck). Alle diese äußerst instruktiven Texte nähern sich der Gesamtthematik mit einem expliziten Blick von Frauen selbst, die alle wissenschaftlich-theologisch argumentieren. Die Beiträge von Frauen für Frauen erweisen allen Mitgliedern der Kirche den großen Dienst der Aufklärung und des „Schweigebruchs“, die unbedingt nötig sind, damit die Wunden der missbrauchten Frauen heilen können und Kirche umkehren kann.

Dr. Andreas Heek

 

 

Schlagwörter: Kirche und Theologie, Missbrauch

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