Giese, Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war

Giese, Linus, Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war, Hamburg (Rowohlt) 2020.

 

„Da saß nun meine Pfarrsekretärin und sagte unter Tränen, dass ihr Sohn kürzlich entdeckt hat, dass er transsexuell ist“, so eine Gesprächssequenz mit einem altgedienten Pfarrer, der gerade begonnen hat, sich in seinem Bistum um eine angemessene Pastoral für LSBTI*-Personen zu bemühen. „Ich wusste auch zunächst nicht recht, was ich dazu sagen sollte…“ „Aber das ist doch ein wunderbarer Seelsorgegesprächsanlass“, unterbrach ich ihn spontan. „Das meint doch Seelsorge im wahrsten Wortsinn, oder?“

Der mit der Lehre der Kirche übereinstimmende Gesprächsverlauf eines solchen Seelsorgegesprächs würde hingegen nun den Pfarrer veranlassen müssen, seine Sekretärin darauf hinzuweisen, dass eine Transition von einem Geschlecht zum anderen nicht im Sinne der Kirche sei und die Mutter ihren Sohn unbedingt davon abhalten müsse. Hülfe das der Mutter aber in ihrer Sorge? Ein Seelsorgegespräch, das seinen Namen im ergebnisoffen-beratendenden Sinne verdiente, würde sich im Gegensatz dazu an diesen Sorgen der Mutter orientieren und sie darin bestärken, innerlich nah beim Sohn zu bleiben, der eine Tochter werden will. Ihre eigenen Ängste berücksichtigen. Und vor allem: die Liebe zu ihrem „Fleisch und Blut“ stärken.

Solche Sorge um seine Seele in der eigenen Familie oder gar eines katholischen Seelsorgers hat Linus Giese in Bezug auf seine Transition wohl wenig erfahren. Er spricht in seinem sehr persönlichen Buch nur indirekt über die überwiegend ablehnende Reaktion seiner Familie auf seinen Wunsch, von nun an als Mann leben zu wollen. Sehr eindrücklich schildert er hingegen seinen mühevollen Weg, bis er sich mit Anfang dreißig durchringt, eine Transition, also eine sogenannte „Geschlechtsumwandlung“ vorzunehmen. Er berichtet über Anfeindungen, wenn er sich in den sozialen Netzwerken öffentlich outet, bis hin zu bedrohlich wahrgenommenen „Besuchen“ von Gegnern von trans Personen (Pronomen klein geschrieben ist ihm wichtig) an seinem Arbeitsplatz einer Buchhandlung. Er erzählt auch von mühevollen formalen Hürden, angefangen von der Pflichtberatung bis hin zu behandelnden Ärzt*innen, bis er seine erste Hormonbehandlung bekommt. Immer wieder werden ihm, der seit seiner Kindheit ein Befremden mit der eigenen femininen Körperlichkeit empfindet, Steine in den Weg gelegt, ihm schlägt Befremden und Feindseligkeit entgegen. Über weite Strecken ist er allein bei der Suche nach sich selbst.

Berührend an der durchaus selbstbewussten Erzählung seines Outings, die eine sehr starke und bewundernswerte Persönlichkeit erahnen lässt, ist die Schilderung seiner Einsamkeit, seine oftmals enttäuschend verlaufende Beziehungssuche. Verständnis, Wohlwollen und ja, Liebe, erfährt er fast ausschließlich von Seinesgleichen, also von Personen, die ähnlich fühlen und leben wie Giese. Umso eindringlicher zeigt die biographische Erzählung, wie nötig es wäre, Menschen wie Giese mit Empathie und Wohlwollen zu begegnen.

Giese macht es seiner Umwelt und der*m Leser*in nicht einfach. Er stellt an die „Mehrheitsgesellschaft der Heteronormativen“ hohe Ansprüche ihres eigenen Selbstverständnisses. Er ist Anhänger der Auffassung, dass Menschen, die sich mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren, „cis-geschlechtlich“ seien, also ihnen ihre Geschlechtsidentität lediglich zugeschrieben worden sei und diese dies fraglos akzeptierten. Er fordert generell eine Revision der binären Geschlechtszuschreibungen und hält, wenn ich ihn richtig verstehe, nicht-binäres Denken für das eigentlich grundsätzlich richtige, um allen Menschen gleichermaßen gerecht zu werden. Obwohl er selbst sich entschieden hat, auf die „andere Seite“ der Binarität zu gehen, fordert er nicht-binäres Denken. Ein Widerspruch also?

Giese beschreibt seinen Weg zur Transition anders. Er spürt auf diesem Weg eine Veränderung, die anders verläuft, als gedacht. Er spürt, dass es ihm guttut, ganz bewusst auch im äußeren Erscheinungsbild offen zu halten, ob er als Frau oder Mann wahrgenommen wird. Und doch freut es ihn auch, wenn er ohne Umschweife als Mann angesprochen wird. Ist vielleicht tatsächlich das Gefühl des Dazwischen seine eigentliche Identität? Und weiter: Ist Geschlechtlichkeit überhaupt eine Frage der Identität?

Manchen wird diese scheinbare Widersprüchlichkeit (ver)stören. Aber besteht das Leben nicht ganz prinzipiell oder sehr oft aus Unklarem, Ambivalentem? Ist immer alles glatt und eindeutig, wie die meisten Menschen es gern hätten? Ich meine: Das Buch von Linus Giese ist ein Lehrstück im Aushalten von Uneindeutigkeiten. In der Begegnung mit trans Personen kann jedem einzelnen aufgehen, dass letztlich nur eines wichtig ist: allen Menschen Gemeinschaft und Liebe anzubieten, egal ob sie den gängigen Vorstellungen von Geschlechtlichkeit entsprechen oder nicht. Es gar spannend finden, mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen.

Gehört diese Aufgabe nicht zum Kerngeschäft der katholischen Seelsorge? Wenn nicht dies, was dann?

 

Dr. Andreas Heek

 

 

Stichwörter: LSBTI, Männlichkeit

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