Fastenimpuls – Karfreitag

 

Durchkreuzte Lebenswege

 

Lebenswege, auch sorgfältig geplante, verlaufen plötzlich anders. Diese Erfahrung macht der Mann, der allein dasteht, nachdem er seine Frau oder sie ihn verlassen hat. Der Vater, der seine Kinder nach der Trennung nicht mehr sehen darf. Oder der Mann, der sich den langersehnten Ruhestand ganz anders vorgestellt hat. Mehr noch der, der mitten im Leben durch Krankheit aus allen Aktivitäten gerissen wird. Durchkreuzte Lebenswege. Durch wen?

 

In meinem 37. Lebensjahr entschied ich mich, künftig mit Frau und Familie leben zu wollen. Zehn Jahre hatte ich als Priester zölibatär gelebt, mich lange vorbereitet, um die Entscheidung gerungen, um am Ende doch zu scheitern. Die vielversprechende Karriere war abrupt beendet, weil der kirchliche Arbeitgeber nur die Entlassung vorsieht.

Arbeitslos, halb versteckt, ungewiss um das Vertrauen von Freunden und Gefährten ringend, brauchte ich Zeit, bis ich die Konsequenzen der eigenen Entscheidung verstehen und – länger noch – sie annehmen konnte.

Der Karfreitag eines hoffnungsvollen Kirchenmannes. Unverhüllt und nackt am Ende.

 

Damals begann ich zu verstehen, was ein Benediktinermönch mir Jahre vorher als eine Regel geistlichen Lebens wiederholte: „Du musst abgeräumt werden.“ Er erläuterte es: „Erst wenn Gott tabula rasa in Deinem Leben gemacht hat, beginnst Du ein geistliches, von falschen Plänen freies Leben.“

Daran erinnere ich mich immer, wenn wir am Abend vor dem Karfreitag, nach dem Abendmahlsamt, den Altar abräumen. Er wird entblößt, damit da nur noch der nackte Tisch steht. In der Entblößung des Altares wird die Zerstörung des Heiligsten, wird der Tod Christi dargestellt. Das Zeichen der Entblößung hat seit je einen wichtigen Platz im christlichen Gottesdienst. In der alten Kirche etwa legte der Taufbewerber vor Empfang der Taufe alle Kleider ab, stieg nackt ins Taufbecken hinab, nackt wie Christus am Kreuz. Und wenn er getauft heraufsteigt, wird er in festliches Leinen gekleidet, das Festgewand für das erste Abendmahl. Aber auch die Büßer legten ihre Kleider ab, hüllten sich bis zur Wiederversöhnung mit der Gemeinde in ein härenes Gewand, meist ein Geflick aus Lumpen. So verzichteten sie auf Rang und Würde, und durch die teilweise damit einher gehende Nacktheit vergegenwärtigten sie sich und den anderen ihre Scham über das Getane.

 

Offensichtlich sind das Taufkleid und das Büßerhemd die frühesten liturgischen Gewänder gewesen, von Messgewändern ganz zu schweigen. Ich weinte, als ich in der Sakristei der Ordensschwestern, mit denen ich meine letzte Heilige Messe gefeiert habe, das Messgewand ablegte, das ich nie wieder würde tragen dürfen. Die Tränen hatten etwas von einer Taufe, in die ich nun wie nackt gehen musste.

 

In der Johannespassion am Karfreitag lese ich vor diesem textilen Hintergrund drei Passagen und mache mir meine Gedanken zum eigenen Lebensweg:

Der purpurrote Mantel (Joh 19,2-3): Wieviel falsche Ehrerbietung und Freunde brachten mir die Gewänder der nun durchkreuzten Lebensplanung? Das musste ich erkennen lernen.

Das unzerteilte Untergewand (Joh 19, 23-24): Es gibt etwas, das dir niemand nehmen und zerstören kann. Das musste ich suchen und finden.

Die Leinenbinden (Joh 19, 40): Wie das berühmte letzte Hemd ohne Taschen setzen sie dich auf Null. Du nimmst nichts mit.

 

Seit jenen Tränen stand ich nicht mehr an einem Altar, bis ich mich Anfang dieses Jahres im Museum Wiesbaden Eduardo Chillidas „Gurutz Aldare“ näherte. Ein wahrhaft abgeräumter Altar. Ein in drei Kreuze auseinandergebrochener Altar, der den, der sich nähert, in die Leere des Zwischendrin eintreten lässt.

Dem Abgeräumten, im Zwischendrin Stehenden bleibt die nackte Hoffnung:

„Ich setzte den Fuß in die Luft

und sie trug.“

(Hilde Domin, Nur eine Rose als Stütze)

 

Autor: Ulrich Kuther

 

Biblischer Bezugstext: Joh 18,1-19,42

 

 

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