Fastenimpuls – 4. Fastensonntag

Scheitern. Anfang des Erfolges?

Als ich von Herrn Heek eine E-Mail mit der Bitte bekam, einen Beitrag für den Fastenimpuls zu schreiben, zögerte ich nicht eine Sekunde, sofort ja zu sagen. Denn im September 1974 zählte ich mich zu dem Menschen, der regelrecht gescheitert war. Ich saß in Berlin in der Abschiebehaft und sollte schnell abgeschoben werden, da ich keinen gültigen Pass, keine polizeiliche Anmeldung und keine Aufenthaltserlaubnis hatte.

Drei Tage und Nächte beschäftigte ich mich mit meinem Scheitern. Was würden die Menschen in meinem Dorf und Heimatland über mich denken. Ich war nicht nur gescheitert, sondern hatte erhebliche Schamgefühle.

Diese Erfahrung in der Abschiebehaft war für mich der Anlass, den Begriff Scheitern als Beginn des Erfolges zu sehen und dementsprechend zu handeln.

Ich begann sofort, mich ehrenamtlich zu engagieren und das Leben aus positiver Sicht zu betrachten. Durch diese wunderbare Tätigkeit habe ich mehrere zehntausend Menschen kennenlernen dürfen, die ich als Schätze dieser Erde sehe. Alle dieser Menschen haben Schätze, die noch nicht entdeckt worden sind. Es wäre wunderbar, wenn wir schaffen könnten, diese Schätze aus den Individuen heraus zu kitzeln.

Es ist immer von großer Bedeutung, dass wir Menschen von positivem aus zu den Ergebnissen kommen.

Es hängt doch immer davon ab, ob man das Glas halbvoll oder halbleer beschreibt. So ist es auch mit dem Begriff Scheitern. Er ist für mich die Chance immer wieder neu anzufangen, ein kleines Brötchen zu backen. Würden alle Menschen dies ausprobieren, könnten wir eines Tages das größte Brot backen. Wäre dies nicht schön?

Wichtig ist es immer dabei, dass man die richtigen Werkzeuge und Ersatzteile dabeihat, wenn man mit Menschen zusammenkommt und arbeitet. Das wahre Miteinander statt Übereinander, Gegeneinander, Nebeneinander und Durcheinander könnte unser Kompass sein. Wir sollen immer daran denken, dass wir alle Gäste auf diesem schönen Planeten sind.

Wer hätte für möglich gehalten, dass ein Anatolier, der in Abschiebehaft saß, eine Väter- und Männergruppe für Väter- und Männer mit türkischer Zuwanderungsgeschichte in Deutschland gründet und diese Gruppe gegen Gewalt demonstriert und Aktionen durchführt?

Viele dieser wunderbaren Menschen fühlten sich als gescheitert und gebrandmarkt. Nun haben sie das Zepter in ihre eigenen Händen genommen und handeln. Dies ist doch eine beachtliche Entwicklung für unsere Gesellschaft und Land.

Ich bedanke mich für Ihre Geduld, Verständnis und schließe meine Gedanken mit einem Gedicht des großen türkischen Dichters Nazim Hikmet ab:

Leben

einzeln und frei

wie ein Baum

und brüderlich

wie ein Wald

das ist unsere Sehnsucht

 

Kazim Erdogan

Gründer der bundesweit ersten Selbsthilfegruppe für türkische Männer und dem Verein „Aufbruch Neukölln“
https://www.aufbruch-neukoelln.de/

 

 

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