Hofmann/Heise (Hg.), Spiritualität und spirituelle Krisen

Liane Hofmann & Patrizia Heise (Hg.), Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis, Stuttgart (Schattauer) 2017

 

Manchmal wird in der theologischen Wissenschaft selbstkritisch vermerkt, sie schließe sich zu sehr in einen innertheologischen bzw. innerkirchlichen Diskurs ein und von den anderen Wissenschaften ab. Von anderen Wissenschaftsdisziplinen hört man Ähnliches, was für diese noch für die Theologie alles andere als ein Ruhmesblatt ist. Vom sprichwörtlichen interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeiten bleibt in der Praxis oft nur ein Lippenbekenntnis.

Über das vorliegende psychologische Handbuch von Hofmann und Heise kann man dies allerdings nicht sagen. Es widmet sich bewusst einem Thema, das für die Psychologie lange Zeit Tabu war: Religiosität. Ein wenig merkt man dies dem Buch an: Religion und Religiosität sind seltene Begriffe und werden durch den zwar weiten aber auch schwammigeren Begriff „Spiritualität“ ersetzt. Dass die Psychologie sich bis heute mit Glauben und Religion schwertut, liegt sicher am „Urahn“ der Psychoanalyse Sigmund Freud, der für die meisten Psychologen, selbst wenn sie die Psychoanalyse ablehnen, dennoch so etwas wie der Herrgottswinkel für viele Katholiken geblieben ist: im Haus wohnen zwar alles Ungläubige, aber der Herrgottswinkel bleibt weiter unangetastet.

Da also Freud (aus der eigenen schwierigen religiösen Sozialisation heraus) Gott als Projektion für einen mangelnden erwachsenen Ich-Zustand hielt, lehnte er Religion als Mittel einer zu überwindenden Beherrschung des Ich durch das Über-Ich vehement ab (etwas verkürzt zusammengefasst. Das Patriarchat des übergroßen Vater-Gottes sollte abgelöst werden durch ein starkes, integriertes Ich.

Seit Begründung der Psychoanalyse haben sich viele Richtungen der Psychotherapie entwickelt, die sich untereinander oft uneins sind, wenn nicht sogar bekämpfen. Man nehme nur das Beispiel die klassische spiritualitaet-und-spirituelle-krisenAuseinandersetzung zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. In der Religionskritik und der Bestreitung Gottes sind sich die meisten allerdings bis heute einig.

Der vorliegende Band widerspricht dieser vermeintlich felsenfesten These. Er geht vielmehr von der Phänomenologie aus, was sich für die Psychotherapie eigentlich auch geziemt: Menschen kommen in Behandlung, die sich entweder in einer profunden Sinnkrise befinden oder keinen Zugang zu ihrer Spiritualität finden, was letztlich auf dasselbe hinausläuft. Die Herausgeberinnen stellen aber fest, „dass Psychotherapeuten hinsichtlich eines professionellen Umgangs mit diesbezüglichen Problemstellungen nicht in hinreichendem Maße geschult sind (S. IX),“ weil sie in ihren persönlichen Bezügen nicht mit Religion in Berührung sind und wenn sie ehrlich sind, damit auch nichts zu tun haben wollen. Die klinische Psychologie befasse sich, so Hofmann & Heise weiter, schon länger mit transpersonaler Psychologie, Religionspsychologie, klinischer Parapsychologie und dergleichen mehr. Das Neue daran sei aber, dass sie solche Phänomene neuerdings nicht sogleich pathologisiere, sondern auch als Ressource zur Gesundung nehme.

Die vorliegende Antholologie nimmt sich ein ehrgeiziges Programm vor. Im ersten Teil werden „historische und kontextuelle Hintergründe“ zum Thema aufgezeigt. Es werden Definitionen gesucht für die Begriffe „Spiritualität“ und „Spirituelle Krisen“. Leider gibt es in diesem Teil keine „Geschichte der Religionskritik in der Psychologie“. Allerdings wird versucht, Psychotherapie und spirituelle Begleitung nicht strikt voneinander zu trennen, sondern Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede herauszuarbeiten, was wiederum gut ist.

Im zweiten Teil werden theoretische Modelle für Veränderungen im spirituellen Wachstums als entwicklungspsychologisches Phänomen behandelt: sehr gut! Deshalb, weil hier Spiritualität nicht als statische Größe genommen wird, sondern als veränderbare Eigenschaft, die mit dem Alter und/oder den Lebenserfahrungen korrespondieren und mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun hat.

Der dritte Teil beschäftigt sich mit unterschiedlichen Erscheinungsformen spiritueller und religiöser Probleme. Hier werden durchaus auch Erfahrungen der mystischen Form von Religiosität in unterschiedlichen Religionen einbezogen, auch wenn der mystischen Tradition des Christentums nicht gebührenden Raum eingeräumt wird. Schließlich hat das Christentum jahrhundertelang und bis heute die Menschen geprägt.

Im vierten Teil wird über einige, aber wenige (weil wenig vorhanden?) empirische Forschungsergebnisse berichtet, bevor ein fünfter Teil sich der Diagnostik und Behandlung spiritueller und religiöser Probleme widmet. Hier werden auch Therapieansätze vorgestellt, die den klassisch ausgebildeten Psychologen möglicherweise nicht sofort gefallen, zumal auf dem Diagnosetableau auch außergewöhnliche religiöse Erfahrungen stehen, die nicht generell pathologisiert werden. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Psychotherapie und geistlicher Begleitung. Zum Haare raufen? Für einen Theologen nicht, weil die spirituelle Tradition vom Beichtstuhl bis zu den Ignatianischen Exerzitien solche Grenzgänge kennt, wenn dies von psychologisch geschulten, lebenserfahrenen und in einer spirituellen Praxis erfahrenen Begleiter geschieht.

Schließlich werden in einem sechsten Kapitel gesellschaftliche Perspektiven aufgezeigt, u.a. auch die für die etablierten Kirchen herausfordernde These, dass die Krise der Gesellschaft eine säkulare, undogmatische Spiritualität erfordere. Hier werden die Kirchen indirekt aufgefordert, ihr dogmatisches Haus weiter zu öffnen. Vorbilder sind die christlichen Mystiker wie Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz oder Thersa von Avila. Auch sie erweiterten den spirituellen Raum und stießen zu einer bis dahin ungeahnten Tiefe vor.

Den christliche Theologen lässt das Buch u.a. deshalb mit einem lachenden und einem weinenden Auge zurück. Freuen lässt ihn, dass es einen ernsthaften, akribischen Umgang mit dem Thema gibt, differenziert und ausgewogen. Traurig macht ihn, dass so wenig christliche Mystik und Pastoralpsycholgie in die Fachbeiträge eingeflossen ist. Oder hat dies etwa auch mit der Abschließung der Theologie vor der Psychologie und im Fall der Herausgeberschaft von Nichttheologinnen ein wenig auch umgekehrt zu tun? Verdächtigen sich beide Disziplinen immer noch der Ketzerei bzw. unangemessener Machtausübung über das Ich?

Ich meine, dieses hervorragende Buch wäre Anlass, noch einmal neu an das Thema des Dialogs zwischen Psychologie und Theologie heranzugehen. Schier Unglaubliches (Entschuldigung für den kleinen Witz) könnte zutage treten, wenn die Zusammenhänge zwischen christlicher Mystik, geistlicher Begleitung und Psychotherapie noch stärker beleuchtet würden, als es diesem Buch geschehen ist. Erfahrene Seelsorger und Psychotherapeuten müssten viel mehr miteinander reden und ihre alten, dogmatischen Grabenkämpfe begraben.

Das Buch jedenfalls ist ein Meilenstein auf diesem Weg.

Die Kritik an der Anthologie kann nach dem vorher Gesagten nicht verwundern: Es gibt achtundzwanzig AutorInnen, allerdings nur fünf mit theologischem Hintergrund, aber nur einen ausschließlichen Theologen (Anton Bucher). Es wäre sehr wünschenswert gewesen, Wege geistlicher Begleitung mit theologischer Reflexion zu verbinden, die sich auf die Religion bezieht, die in Deutschland über Jahrhunderte das kulturelle Bewusstsein geprägt hat und auf die sich viele Menschen immer noch – bewusst oder unbewusst – beziehen.

Dass die Literaturhinweise nur über eine Internetadresse erlangt werden können, ist zwar angesichts der Dicke des Buches (fast 500 Seiten) verständlich, für den wissenschaftlich Interessierten allerdings auch schade. Aber dieses Manko ist leicht verkraftbar, weil der Band eine Fülle unterschiedlicher Zugänge zu einem der wichtigsten Themen der Lebenspraxis, nämlich dem der spirituellen Ausrichtung des Lebens enthält.

Unbedingte Empfehlung für Psychtherapeuten, geistliche Begleiter und Seelsorger.

Dr. Andreas Heek

 

 

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