Baron-Cohen, Vom ersten Tag an anders.

Simon Baron-Cohen, Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn. Walter Verlag, Düsseldorf und Zürich 2004. ISBN 3-530-42174-X. 332 Seiten, € 19,90.

 

Das Buch stellt eine Theorie vor – mehr nicht: „Das weibliche Gehirn ist so ‚verdrahtet‘, dass es überwiegend auf Empathie ausgerichtet ist. Das männliche Gehirn ist so ‚verdrahtet‘, dass es überwiegend auf das Begreifen und den Aufbau von Systemen ausgerichtet ist.“ (S. 11). Damit bezieht Baron-Cohen Position in der Debatte, ob die Geschlechtsunterschiede soziokulturellen oder biologischen Ursprungs sind. Er tut das nicht einseitig und verbissen, sondern differenziert, wohlbegründet und mit einer Prise Humor. Er ist auch für andere Meinungen offen und setzt sich damit kritisch auseinander. Man kann ihm nur wünschen, dass seine Theorie von möglichst vielen auf den Prüfstand gestellt wird, um ihre Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit zu erweisen.

Nach Baron-Cohen lassen sich die menschlichen Gehirne in zwei Haupttypen aufteilen: Personen mit Typ E (wie „Empathie“) können sich gut in andere Menschen hineinversetzen, Personen mit Typ S (wie „Systematisieren“) zeichnen sich durch analytische Fähigkeiten aus. Da sich Typ E vor allem bei Frauen, Typ S dagegen vorwiegend bei Männern findet, spricht Baron-Cohen vom „weiblichen“ und vom „männlichen Gehirn“. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch Frauen mit Typ S gäbe und umgekehrt. Die beiden Aspekte „Empathiefähigkeit“ und „Systematisierungsfähigkeit“ finden sich vielmehr in unterschiedlichster Mischung bei Männern und Frauen.

Das Buch stellt eine Fülle von Untersuchungsergebnissen vor, um die Theorie der biologisch bedingten geschlechtstypischen Gehirnunterschiede zu belegen. Ein deutliches Indiz ist, dass sich bereits bei einen Tag (!) alten Babys entsprechende Verhaltensunterschiede feststellen lassen. Offensichtlich prägt die Menge des Hormons Testosteron, die vor und nach der Geburt ausgeschüttet wird, entscheidend die Entwicklung des Gehirns. Dabei leugnet Baron-Cohen nicht, dass auch kulturelle Einflüsse eine Rolle spielen. Er versucht aber v. a., eine genetische Ursache und damit eine evolutive Entwicklung dieser Gehirnunterschiede plausibel zu machen.

Baron-Cohen leitet als Psychologe eine Klinik für Erwachsene mit dem Asperger-Syndrom, einer abgeschwächten Form des Autismus. Diese Menschen verfügen nur über ein schwach entwickeltes Einfühlungsvermögen, was ihre Beziehungsfähigkeit erheblich einschränkt. Mit ihrer teilweise außergewöhnlichen Begabung im Systematisieren können sie aber Spitzenleistungen in Fächern wie Mathematik und Physik erbringen. Baron-Cohen versucht nun, den Autismus als Extremform des „männlichen Gehirns“ zu erklären. Tatsächlich sind autistische Störungen genetisch bedingt und treten wesentlich häufiger bei Männern als bei Frauen auf.

Abschließend thematisiert der Autor noch die (ethischen) Implikationen seiner Theorie. Er betont, dass keiner der beiden Gehirntypen „besser“ ist, und fordert gegenüber Autisten Respekt ein.

Baron-Cohen schreibt allgemeinverständlich, alles andere als steif, sondern er erzählt auch gerne aus seiner Praxis. Der Fachmann wird sich über die umfangreiche Bibliographie und das ausführliche Register freuen. In einem Anhang sind zudem vier Selbsttests abgedruckt.

 

Martin Hochholzer

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